Literatur

Der Vater eines schönen Ausländerkindes

Buchrezension von Songül Kaya

Stell dir bitte ein kleines, fröhliches, hübsches Mädchen mit hellbraunen Haaren und grün-blauen Augen vor. Es wird jeden Tag von ihrem Papa aus dem Kindergarten abgeholt. Danach verbringen die beiden die schönsten Nachmittage ihres Lebens. Bis die Mama von der Arbeit nach Hause kommt, spielen sie auf dem Teppich. Sie tanzen, singen, malen und hören gemeinsam alte englische Musik, die beiden große Freude bereitet.

Und irgendwann?…
„Irgendwann während unserer Zeichen-Nachmittage dürfte mir mein Vater auch beigebracht haben, wie man liest und schreibt“, erinnert sich das Mädchen, in ihrem fortgeschrittenen Alter, als eine Juristin.
„Ich weiß nicht mehr, wessen Idee es war, aber auf einmal zeichneten wir statt Disneyfiguren nun Wörter und Texte nach, die wir in der Küche verstreut fanden: Sony, ohne Zuckerzusatz, Dr. Oetker, pflanzliches Fett, klassischer Toastgenuss, Haselnüsse, Keine Macht den Drogen, mit vielen wertvollen Vitaminen und Folsäure, mindestens haltbar bis…“
Und die Juristin aus Wien führt in ihrem Debüt auf der Seite 45 fort;
„Während ich jedes Wort, das mir im Umkreis von drei Metern um den Küchentisch auffiel, sorgfältig niederschrieb, fragte ich meinen Vater, ohne dabei meinen hochkonzentrierten Blick vom Block aufzuheben, „Koje je te slovo? (Welcher Buchstabe ist das?)“ Bis auf „ü“, „ä“, „ö“ und „ß“ kannte mein Vater jeden einzelnen Buchstaben. Nachdem ich das Wort zu Ende geschrieben und vorgelesen hatte, fragte er: „A sta ta rec znaci nasem? (Und was bedeutet dieses Wort in unserer Sprache?)“, bevor er es auf Deutsch langsam vor sich hin wiederholte.“

Warum die Autorin Toxische Pommes heißt

Als ich diese Textstelle in dem Roman „Ein schönes Ausländerkind“ las, wurde mir klar, warum die Autorin sich das Pseudonym Toxische Pommes aussuchte. Toxische Pommes ist zwar eine Juristin vom Beruf, zeitgleich aber dreht sie TikTok-Videos, indem sie ihre Reaktion auf die ausländerfeindlichen Vorurteile der einheimischen Gesellschaft kurz und bündig darstellt. Diese Reaktion zeigt sie auch in ihren Kabarettshows. Das bekannteste wurde unter dem Titel Ketchup, Mayo und Ayvar im Jahr 2022 auf die Bühne gebracht.

Die Rolle des Küchentisches, an dem die Autorin als Kind ihre schönsten Nachmittagsstunden verbrachte, finde ich sehr wichtig für ihre erfolgreiche Migrationsgeschichte. Denn die Küche war ein Ort, wo das Mädchen vor allem das Lernen als eine selbstverständliche Aufgabe des Alltages wahrnahm und freiwillig mit dem Papa lesen wie schreiben übte. Die Gegenstände, auf denen unbekannte Buchstaben bzw. Wörter standen, bedeuteten für sie mehr als ihre eigentlichen Bedeutungen. Das Mädchen verinnerlichte diese Wörter, um dem Papa die deutsche Sprache beizubringen, so viel sie konnte. Durch diese komplexe Wechselwirkung der Rollen entstand eine ebenso komplexe Bindung zwischen dem Mädchen und ihrem Vater. Das Selbstwertgefühl sowie das Selbstbewusstsein der Tochter wuchsen durch intensive Liebe und Zuneigung des Vaters permanent auf.

Ganz am Anfang des Buches steht ein Satz der Autorin, in dem sie den Begriff Liebe definiert:
„Liebe ist ein Teller voll frisch geschnittenem Obst .“
Den Hintergrund dieser Definition findet man auf der Seite 128, wenn man das Buch aufmerksam liest.
„ …Doch nur zehn Minuten nachdem er aus dem Zimmer verschwunden war, stand er auch schon wieder in der Tür „Oprostitvom glupom ocu. Barem sam napravio pamento dete. (Vergib deinem dummen Vater. Wenigstens habe ich ein kluges Kind gemacht.), sagte er leise und legte einen Teller voll frisch geschnittenem Obst neben meine Hausaufgaben.“

Über das Buch

„Ein schönes Ausländerkind“ ist ein autofiktionaler Debütroman von der im heutigen Kroatien geborenen Autorin Toxische Pommes. Das Buch wurde im Jahr 2024 veröffentlicht und als Bestseller verkauft.

In diesem Roman wird durch die Perspektive der Ich-Erzählerin thematisiert, wie ihre Familie aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Österreich flieht und sich dort ein neues Leben aufbaut. In der hundertprozentig authentischen Narration fokussiert sich die Ich-Erzählerin meistens auf ihre Ereignisse mit dem Vater. Der Vater ist zwar ein studierter Schiffbauingenieur, aber auch ein geflüchteter Ausländer, der sich bemüht, ohne eine gültige Arbeitserlaubnis in Europa Fuß zu fassen.

Nach langem Warten auf die Arbeitsgenehmigung in den ersten Jahren blieb ihm nichts anderes, als sich um seine kleine Tochter sowie um den Haushalt zu kümmern, während seine Frau im Nebenhaus für eine österreichische (einheimische) Familie putzte, kochte und auf deren Kinder aufpasste.

Der Roman besteht aus drei Lebensphasen der geflüchteten Familie nach einer chronologischen Reihenfolge. Die erste Phase beinhaltet zum Teil den Anfang des Krieges in dem ehemaligen Jugoslawien in den 90´er Jahren, Flucht und Migration der dreiköpfigen Familie sowie ihre ersten Jahre in der Wiener Neustadt. Da werden die Lebensumstände bzw. Ängste, Sorgen und neue berufliche Erwartungen der jungen Eltern sowohl in der Heimat als auch in der Fremde durch das Kindesauge szenisch dargestellt, obwohl das Kind in seinen ersten Lebensjahren noch nicht in der Lage sein kann, alles zu beobachten und zu reflektieren. Hier kann man, trotz klar strukturierter chronologischer Zeitform, von einer Mischung der Erzählzeit und Erzählenden Zeit reden. In dieser ersten Lebensphase erfährt man, wie die beiden Elternteile der Ich-Erzählerin mit der einheimischen Familie (Familie Hell mit zwei Kindern) in der Wiener Neustadt zusammenkommen und einen Deal abschließen.

„Der Deal mit Familie Hell lautete: Meine Mutter putzt, kocht und passt auf die Kinder auf, während sich mein Vater um den Garten und auffällige Reparaturen kümmert. Im Gegenzug durften wir in das Haus von Renatas Mutter einziehen und dort mietfrei wohnen. Außerdem boten Gerhard und Renate an, meinen Vater dabei zu unterstützen, in einem der umliegenden Betriebe eine Anstellung zu finden.“
In dieser Win-Win-Beziehung bleibt jedoch das Angebot für den arbeitslosen Vater weg. Er putzt und wartet, bis die Mutter eine bessere Arbeitsstelle in einer Apotheke findet, welche zu ihrer Ausbildung in der Heimat passt. Dadurch zieht die Familie um und baut ein eigenständiges Leben auf. In diesem neuen Leben wird ausführlich beschrieben, wie der Vater mit der Zeit seine ungenutzten Ressourcen für eine vernünftige Arbeit aufgibt, indem er für seine Frau und Tochter intensiv putzt, kocht und sich nachts nur im Internet beschäftigt.
Von seiner natürlichen Umgebung in der Heimat erfährt man in Urlaubsreisen. Da blüht der arbeitslose Vater auf, wobei er seine Arbeitslosigkeit vor seinen Familienmitgliedern verheimlicht.

In dieser Hinsicht deckt der Roman durch die Innenperspektive der Migranten die strukturellen Hindernisse der Migrationspolitik auf, welche die Integration der zugewanderten Menschen paradox artig einschränkt. Der Vater leidet jahrelang unter Arbeitslosigkeit und kann sich in der neuen Gesellschaft nicht richtig sozialisieren, weil er keine Arbeitsgenehmigung bekommt und dadurch krank wird.
Zum Schluss endet die Narration mit der untenstehenden Frage und Antwort:
„Was hat uns Österreich gekostet? Meinen Vater seine Stimme, meine Mutter ihre Lebendigkeit. Und mich? Meinen Vater.“
Dieser Roman mit seiner Erzählweise ist jedenfalls lesenswert, um die aktuellen Debatten über Migrationspolitik aus der Perspektive der Migranten besser zu verstehen.

Köln, 09.02.2025

Ein schönes Ausländerkind. Roman von Toxische Pommes.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2024.
13,5 x 21 cm, 208 S., geb.
23,00 €
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