von Giorgia Sogos Wiquel
Im literarischen Kontext gilt die Schriftstellerin, Journalistin und Regisseurin Edith Bruck als eine der maßgeblichsten Zeitzeuginnen des Holocausts.
Geboren 1931 in einem kleinen ungarischen Dorf an der Grenze zur Slowakei, ist Edith Steinschreiber das letzte Kind einer kinderreichen jüdischen Familie. Schon mit zwölf Jahren erlebte sie wegen ihrer Herkunft Intoleranz und Diskriminierung, die im April 1944 in die Verschleppung ihrer ganzen Familie ins Ghetto von Sátoraljaújhely mündeten. Es folgte die Deportation in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, wo ihre Eltern ums Leben kamen. Zusammen mit ihrer Schwester wurde Edith in verschiedene Konzentrationslager wie Dachau und Bergen-Belsen geführt, wo sie im April 1945 durch die Alliierten befreit wurden.
Die tragische Erfahrung der Deportation und der ständige Kampf um das Überleben werden in zahlreichen Werken dargestellt, die mehrmals mit Preisen ausgezeichnet wurden. Neben Gedichten und Erzählbänden sind die Romane wie Chi ti ama così (1959) („Wer dich so liebt“ – auf Deutsch übersetzt und erschienen), Lettera alla madre, Quanta stella c’è nel cielo am bedeutendsten. Ihr letzter Roman Il pane perduto (2021), dessen deutsche Übersetzung gerade in der Bearbeitung ist, wurde mit dem Strega Preis und mit dem Viareggio Repaci Preis 2021 ausgezeichnet. Im Mittelpunkt dieses Werkes steht die junge Ungarin Ditke als Hauptfigur, die das Alter Ego von Edith Bruck selbst darstellt. Durch Ditke wird die unglückliche Kindheit der Schriftstellerin nacherzählt, die von Armut geprägt war. Nach den ersten Erfahrungen von Antisemitismus, die Ditke als Schülerin erlebt, wird sich das Leben ihrer ganzen Familie für immer verändern. Mit Gewalt wird sie durch die ungarischen Faschisten aus ihrem Haus gejagt und ins Ghetto verfrachtet. Fünf Wochen später wird die Familie in der Nacht von der deutschen Polizei brutal überwältigt und gezwungen, das Haus noch einmal zu verlassen. Von dort wird sie nach Auschwitz verschleppt. In diesem Ereignis, das den Höhepunkt der ganzen Geschichte darstellt, fügt sich das Bild des verlorenen Brots ein. Es handelt sich um das begehrte Brot, das die Mutter am Vorabend von Pessach gebacken hat. Allerdings wird niemand aufgrund der Razzia der Nazis keinen Krümel davon genießen. Das verlorene Brot wird daher Jahre später zum Symbol einer tiefen Leere, gekennzeichnet vom Verlust der Mutter, die ein Opfer der Nazi-Grausamkeit war. Im Laufe der Geschichte gibt die Autorin durch die Hauptfigur die Zersplitterung ihres eigenen Lebens in verschiedenen Phasen wieder, die mit der Deportation beginnt.
Auch nach der Befreiung durch die Alliierten geschieht die Rückkehr ins Leben auf eine ebenso dramatische Weise. Nirgendwo, weder in der zerstörten Heimat noch in dem von der Mutter begehrten Land (Israel), ist ein Platz für sie. Nach einer Reihe von flüchtigen Ehen und Jobs wird sie Tänzerin bei einer kleinen Ballettruppe, sie kommt schließlich in Italien an und entscheidet sich dafür, sich dort niederzulassen. Der Wunsch nach einem Neuanfang erfüllt sich mit der Notwendigkeit, sich mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. In Italien hat Edith Bruck kein Vaterland, sondern ihre Freiheit zusammen mit einer neuen Sprache gefunden, durch die sie sich am besten ausdrücken kann. Anders als die ungarische und die deutsche wirkt die italienische Sprache bei ihr als erinnerungslos. Daher kann sie über ihre Vergangenheit hemmungslos erläutern, und das tut sie es auf eine einfache, unmittelbare Art und Weise sowie mit poetischer Meisterschaft.
Edith Bruck hört auch nach Jahren nicht auf, ihre eigene Erfahrung als Überlebende des Holocausts sowohl in der Öffentlichkeit, als auch in den Schulen zu erzählen. Zusammen mit der italienischen Senatorin Liliana Segre stellt Edith Bruck eine Art Leuchtturm dar, eine Wächterin, die über unser Gewissen wacht, damit sich die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen.
In ihren Interviews und Gesprächen mit den Jugendlichen berichtet Edith Bruck nicht nur von den tragischen und schmerzhaften Ereignissen, sondern sie erinnert sich auch an die schönen Augenblicke (die sogenannten „Lichtpunkte“ im Dunkeln, wie Edith Bruck selbst sie nennt), und zwar die guten Taten ihrer Folterknechte, die sie erlebte. Auf diese Art und Weise hinterlässt sie uns allen und vor allem den neuen Generationen eine Botschaft der Hoffnung, der Vergebung, sowie der ewigen Wachsamkeit in einer Zeit, die von der Rückkehr zum Nationalismus, zum Rassismus und zur Fremdenfeindlichkeit geprägt ist.
Im letzten Kapitel von Il pane perduto, das als Titel „Lettera a Dio“ (Brief an Gott) hat, wendet sich die Autorin an Gott durch eine Reihe von Fragen, Zweifeln und Überlegungen, die dem Gläubigen selbst nicht entgehen. Auch Papst Franziskus wird von dem Mut dieser Frau tief beeindruckt, die er selbst als Verkörperung der Erinnerung ansieht. So beschließt er im Februar 2021, sie in ihrem römischen Haus zu besuchen. Dieser Begegnung folgt der Besuch Edith Brucks bei dem Papst am 27. Januar 2022, am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Aus diesen privaten Gesprächen entsteht das neue Buch Edith Brucks Io sono Francesco (Ich bin Franziskus), das bei La Nave di Teseo Verlag auf Italienisch frisch erschienen ist.