Rezension des Buches von Dr. Pilar Baumeister von Harald Gröhler:
Pilar Baumeister: „Exotische Geschichten – Wo komme ich her?“
309 Seiten, BOD Norderstedt, ISBN 978-3-738-68918-1, Preis 10,99 €, als E-Book 3,99 €
Eine kluge Autorin, seit 25 Jahren Mitglied im Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (hier auch im Vorstand von Nordrhein-Westfalen), seit drei Monaten im PEN – und von Geburt an blind. 16 Bücher hat sie bisher auf Deutsch und Spanisch veröffentlicht. Was kann diese Frau ihren Lesern zu sagen haben? Hier, das gebe ich zu, komme ich mit Vermutungen überhaupt nicht weiter.
Ich habe mich also mit erheblicher Spannung den 17 Erzählungen ihres Erzähl-Bandes Exotische Geschichten. Wo komme ich her? zugewendet. Und ein Ergebnis sofort vorweg: speziell war ich auch auf der Suche nach Farben gewesen. Es werden keine Farben erwähnt auf den 309 Seiten. Das bewerte ich klar als einen Akt der Ehrlichkeit.
Aber gleich die erste der 17 Geschichten ist raffiniert genug komponiert. Die unehelichen Kinder. Der Auftakt ist, dass die Ich-Erzählerin auf dem Schiff dem Neffen des Kapitäns zumutet, sie sei die Tochter eines Diktators, eine uneheliche Tochter. Ihre Mutter sei ebenfalls eine Tochter des Diktators gewesen; eine inzestuöse Beziehung war das mithin. Ihr Vater-Diktator sei also zugleich ihr inzestuöser Großvater. Und mir als Leser wird eine lange Reihe von Diktatoren aufgezählt, die alle selber unehelich gewesen sind. Das fand ich schon interessant. Stalin, Hussein, Castro, Eva Perón. Und wer uneheliche Kinder hatte, Trujillo z.B. (dem ihr Vater sehr gleiche.). Die Autorin geht da dann sehr ins Grundsätzliche-Theoretische. Natürlich hasste die Ich-Erzählerin ihren Vater und sie hatte null Lust, auch nur seinen Bart zu küssen.
In dieser Weise zieht Pilar Baumeister nicht jedes Mal alle Register. Nüchtern und ohne Weiterungen ist die Geschichte Wahrheit? Fragezeichen. Ein deutsches Arbeitsparadies. Ein Bewerbungsauftritt einer blinden Arbeitsuchenden. Die Gedanken des Angestellten, der vor ihr sitzt, und plötzlich, überraschend für mich als Leser, auch noch die Gedanken und Empfindungen der blinden Bewerberin. Ich empfinde diesen überrumpelnden Schwenk geradezu als den Kick der Geschichte.
In Achtung Krankheit zeigt die Autorin die Bakterienhysterie, in einem Berufsalltag von Angestellten. Die Leute wollen sich nicht einmal mehr die Hand geben. Die Autorin lässt sich nicht hineinziehen, „vielleicht weil wir in Spanien an die körperliche Nähe und den Kontakt gewöhnt sind“. Und sie hat der Geschichte den Untertitel Die Spanier sehen keine Bakterien gegeben.
Das unsichtbare, unhörbare Gespräch (Migranten in Köln) geht aus einer Telefon-Aktion hervor, die von der Stadt Köln gesponsert und durchgeführt wurde. Jeder Migrant, der wollte, durfte kostenlos 10 Minuten mit irgendwem, egal wo auf dem Globus, sprechen. Dieses Arrangement hat Pilar Baumeister bereits als Teil der Story mit beigegeben. Einen Tag lang lief dieses Wohnwagen-Kulturprojekt. Entscheidend natürlich, was die Autorin, selber Migrantin übrigens – aus Barcelona -, vom dem unendlich Vielen, das ihr die Teilnehmenden hinterher anvertraut haben, in ihre referierende Geschichte hineingenommen hat. Mit einer Angabe hat sie mich sofort erwischt – aber auch ihr fiel es ja auf -, mit der Bemerkung einer Ukrainerin: Bei ihnen seien die Beziehungen anders als in Deutschland, man besuche sich auch häufiger, ohne telefonische Voranmeldung. Davon abgesehen, die Familie sei bei ganz Vielen die Hauptsache; die engen verwandtschaftlichen Kontakte. Und zwar grade solcher Migranten, die schon Jahre hier in Deutschland seien und die wirtschaftlich gesichert sind. – Die Aktion fand noch vor dem Syrer-Andrang statt.
In Eine Gabe für Bielca führt die Autorin einen Fall von Doromanie vor. Die Ich-Erzählerin hat in einem Luxushotel in der Dominikanischen Republik Station gemacht und trifft die Palmhüttenbewohnerin Bielca wieder, so wie beim im letzten Urlaub. Beide sind blind. Bielca bekommt diesmal von der Urlauberin deren wertvolle Blindenuhr geschenkt. Zitat: „Eine Uhr ist die Geburtsurkunde der Realität“. Die Schenkende sieht aber ihre Schenksucht selber als zerstörerisch an, die Schenkende bekommt Angst vor sich selber, und dies wird von der Autorin umfassend – und verdächtig kenntnisreich – vorm Leser ausgebreitet.
Ich und die anderen Hiobs: Der heikle Hiob-Stoff, wie hatte sie es mit dem? Da war ich bei Pilar Baumeister auch wieder gespannt. Sie geht von Cervantes aus. Ein glückliches Leben hatte dieser Mann der Weltliteratur nun nicht, und Pilar Baumeister biegt dann die Erzählung auf eine spanische Familie in Köln um; – riskanter Knick dramaturgisch, den sie aber auch der abknickenden Tante eben vorhält. Und indem Pilar hier wieder den Knick bewusst macht, gibt sie ihrem Verfahren doch seine Berechtigung. Sie wertet ihr Verfahren auf. Sie wertet es auf: all ihre familiären hiobartigen Katastrophen seien literarisch gleichrangig. So funktionieren gern Pilar Baumeisters Kompositionen. Die Familienangehörigen sind ihr, der promovierten Frau, dabei allemal wichtig. Was für ein Unterschied zu heutigen deutschen Verhältnissen, wenigstens hier um mich herum im Raum Berlin!
Eine exotische Geschichte wird für manchen deutschen Leser provokativ sein. Auch für mich ist sie es. Denn die Ich-Erzählerin listet vollen Ernstes eine Vielzahl ihrer gehabten Reinkarnationen auf. Sie verhakt die ineinander. Sie erklärt auf die Weise Biografisches. Wiedergeburt ist für sie etwas Unbezweifelbares. In der jetzigen Reinkarnation geht es um ihre schriftstellerische Situation, um ihre erfolgreichere Schriftstellerfeindin, um die niederträchtigen Entscheidungsträger, die sie in den Verlagen dauernd ablehnen. Die Story mündet in vernichtende Verlegeranklagen und zugleich in Selbstverdammung der Erzählerin, und diese realistische Schlussbilanz zieht die ganze Story auf verblüffendste Weise ins Glaubwürdige, ins Hoch-Wahrscheinliche herüber. Das ist eine unerwartete Wirkung dieser Geschichte. Nicht ungeschickt schließt damit auch das gesamte Buch.
Migrapolis Deutschland