Pfarrer Dirk Voos wurde 1959 in Solingen geboren. Er arbeitet als Pfarrer und Seelsorger in der Migrations- und Flüchtlingsarbeit des Ev. Kirchenkreises Bonn und betreut seelsorgerisch die Geflüchteten und Helfer*innen. Vorher war er schon sieben Jahre als Pfarrer in Portugal und zwölf Jahre als Militärseelsorger tätig. Dabei war er auch im Kosovo und in Afghanistan als Seelsorger im Einsatz. Im August 2021 veröffentlichte er ein Buch unter dem Titel „Wachet und betet“. Gebete zu Flucht und Migration während der Corona-Pandemie 2020“.
Dieses Interview wurde für die Zeitschrift „Fifty-fifty“ durchgeführt.
Herr Voos, herzlichen Dank, dass Sie sich Zeit für uns nehmen.
Können Sie sich kurz unseren Leser*innen vorstellen?
Gerne. Ich bin seit 1988 leidenschaftlich Pfarrer und lebe, seit meine Frau und ich 2002 aus Portugal nach Deutschland zurückgekommen sind, im Rhein-Sieg-Kreis. Ich begleite vor allem Menschen in Übergangs- und Krisensituationen. Als Supervisor und Coach habe ich dafür auch Zusatzqualifikationen. Mir ist es wichtig, anderen partnerschaftlich und freundlich zu begegnen.
Wie kamen Sie dazu, ein Buch zum Thema „Gebete zu Flucht und Migration während der Corona-Pandemie 2020“ zu schreiben?
Als die Corona-Pandemie 2020 begann, spürte ich bei vielen Menschen wie auch bei mir selbst eine große Unruhe und viel Sorge. Wie geht es weiter? Wie lange wird die Pandemie uns bedrohen? Werden ich selbst oder Menschen, die ich kenne, krank? Durch die harten Einschränkungen zum Schutz vor Ansteckung steigerte sich diese Unruhe. Vor allen war und ist schwierig, dass keiner weiß, wie lange die Pandemie noch dauert.
Als Pastor weiß ich um die Kraft des Gebets, insbesondere in Situationen, die ich selbst nicht lösen kann. Auf eine höhere Macht zu vertrauen, kann in solchen Situationen Mut machen. Deshalb habe im Frühjahr 2020 für eineinhalb Monate jeden Tag an Interessierte eine Email mit einer Gebetsbitte für Geflüchtete, Migrant*innen und Helfer*innen geschickt.
Später habe ich mir überlegt, dass ich die damaligen Gebetsimpulse in einem Buch festhalten und an noch mehr Interessierte weitergeben kann. Außerdem sind sie ein interessantes Zeitzeugnis für die Anfangszeit der Pandemie.
Wen möchten Sie mit ihrem Buch erreichen?
Das Buch richtet sich nicht nur an Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrung, sondern an alle Menschen. Es soll Verständnis und Solidarität in besonderen Situationen wie der Bedrohung durch Coronaviren fördern.
Wie sind die Kirchen in der Pandemie-Zeit mit Corona umgegangen? Während der Pandemie blieben viele Kirchen geschlossen, wie haben die Kirchen ihre christliche Botschaft weitergegeben?
Die Reaktion der Kirchen auf die Pandemie war und ist unterschiedlich. Am Anfang gab es eine große Unsicherheit, wie viel Begegnung von Menschen verantwortbar ist. Deshalb wurde zuerst aus Vorsicht sehr viel nicht gemacht: keine Gottesdienste in den Kirchen, keine Seelsorgebesuche, Beerdigungen mit nur wenigen Angehörigen usw. Seelsorglich war es schlimm, wie viele einsame Menschen dadurch allein gelassen wurden. Wir haben in der Kirche lernen müssen, das rechte Verhältnis zwischen Vorsicht und menschlicher Fürsorge zu finden. Mit der Kombination von präsentischen und digitalen Angeboten gibt es dafür inzwischen gute Lösungen.
Wäre eine Kirche ohne „lebendige“ Gemeinde denkbar?
Nein. Jedoch habe ich gerade während dieser Pandemiezeit viel „lebendige“ Gemeinde erlebt. Gemeinde, die mit Fantasie neue Möglichkeiten der Begegnung und des Gottesdienstes ausprobiert. Dabei sind viele neue Möglichkeiten des Miteinanders entdeckt worden.
Sie bieten Seelsorge an, mit welchen Fragen kommen die Menschen zu Ihnen? Und was würden Sie über Einsamkeit durch die Corona-Pandemie sagen?
Die Fragen sind so unterschiedlich wie die Menschen. Während der Pandemie war die Sorge, krank zu werden oder andere Menschen anzustecken, sehr stark. Kann ich meine Eltern besuchen, ohne sie zu viel zu gefährden? Ist es richtig, dass die Enkel ihre Großeltern nicht besuchen können? Überhaupt war Einsamkeit wegen fehlender Begegnungsmöglichkeiten ein großes Thema. Auch wenn mmer mehr Menschen geimpft sind, bleibt das ein Thema. Überhaupt beschäftigte die Menschen, weniger Menschen treffen zu können. Die Gemeinschaft fehlte und fehlt. Deshalb ist Einsamkeit ein wichtiges Thema.
Warum haben Sie sich für Theologie entschieden?
Theologie ist mir wichtig, weil ich Antworten auf alle entscheidenden Fragen nicht nur aus menschlicher Sicht suche, sondern überzeugt bin, dass es neben menschlichem Wissen und Welterfahrung noch mehr gibt. Philosophie und Theologie sprechen von transzendenter Wirklichkeit. Dabei geht es um den Ursprung und den Sinn allen Seins und Geschehens. Ich glaube, dass Menschen immer wieder erkennen, dass etwas einfach so ist, weil es so sein soll oder theologisch, weil es von Gott gewollt ist. Für dieses „Mehr“ Sprache zu finden, ist Aufgabe der Theologie. Das interessiert mich.
Wie hat Corona Sie persönlich getroffen?
Aus meiner Familie ist Gott sei Dank niemand krank geworden. Wegen Kontakt zu einem Infizierten musste ich jedoch 14 Tage in Quarantäne leben. So eingeschlossen zu sein, fiel mir schwer. Ich war froh, als ich mich wieder freier bewegen durfte. Ich habe auch regelmäßige Treffen mit Freunden vermisst und freue mich, dass es jetzt wieder mit aller Vorsicht mehr möglich ist.
Als Pfarrer sind Sie in letzten drei und halb Jahren in der Migrations- und Geflüchtetenarbeit tätig, was ist die kirchliche Haltung zu Geflüchteten? Was haben Sie persönlich erlebt?
Für die Evangelische Kirche gehört Gemeinschaft mit Geflüchteten und Migrant*innen wesentlich zu ihrer Existenz. Sie sind wie wir von Gott gewollt und wir sind als Christen überzeugt, dass Gott uns in der Gemeinschaft mit ihnen begegnet. Jesus Christus hat immer die Gemeinschaft mit Menschen gesucht. Vor allem mit Menschen, die Unterstützung brauchen. Seine Aussage „was ihr einem von diesen getan habt, dass habt ihr mir getan“ (Mt 25,40) ist ein klarer Auftrag für Kirche und Christ*innen. Deshalb setzen sich die Kirchen für Integration ein. In Bonn gibt es beispielsweise schon seit mehr als 30 Jahren die Evangelische Migrations- und Flüchtlingsarbeit (EMFA). In vielen Gemeinden gibt es Arbeitskreise von Ehrenamtlichen.
Was sagen Sie zur „Nächstenliebe“ ? Wer ist Ihr Nächster?
Anschließend an Jesu Einsatz für die Menschen um ihn herum, ist für mich derjenige der Nächste, der mir Nächster wird. Er oder sie begegnet mir. Wenn ich in meinem Inneren, in meinem „Gewissen“ bemerke: Ich muss etwas tun, dann beginnt Nächstenliebe. Es dann zu tun, ist für mich Nächstenliebe. Niemand ist jedoch für jede oder jeden verantwortlich und zuständig. Das würde Menschen überfordern und widerspricht der „Nächstenliebe“.
Was macht Ihnen bei Ihrer Arbeit am meisten Freude?
Wenn ich in Begegnungen miterlebe, wie Menschen ihren Weg finden und gehen. Wenn ich miterleben darf, wie etwas gut wird.
Gibt es ein Ereignis, welches Sie nachhaltig beeindruckt hat?
Weniger ein bestimmtes Ereignis. Mich beeindruckt immer wieder, wenn ich erlebe, wie Menschen, denen es selbst gar nicht gut geht, anderen helfen und das wenige Eigene teilen. Solche „Nächstenliebe“ bewundere ich.
Gibt es etwas, was Sie an ihrer Arbeit stört?
Auch nach mehr als 30 Jahren als Pastor sein stört mich immer noch die Begrenztheit menschlichen Wirkens. Es tut mir leid, für wie viele Menschen es keine oder zu wenig Hilfe gibt. Aber ich motiviere mich immer wieder damit, dass die Hilfe für viele Einzelne wichtig ist und zumindest für sie sehr viel bewirkt.
Was wünschen Sie sich für 2022?
Ich wünsche mir und allen Menschen, dass 2022 unbesorgte Begegnungen und Nähe möglich sein werden, damit Menschen sich weniger einsam fühlen.
Gibt es etwas, dass Sie unseren Lesern mit auf den Weg geben möchten?
Mit Erich Kästner : „Es gibt nichts Gutes – außer man tut es“.