Sonstige Projekte

Wenn Enkel erzählen…

von Aylin Celik

Nachdem sich die Ankunft der Gastarbeiter in Deutschland zum 65. Mal jährt und wir heute diese Emigration von Migrant*innen feiern, ist dies leider keine Folge der deutschen Migrationspolitik der vergangenen Jahre.

Die 1960er Jahre waren immer noch durch die Folgen des 2. Weltkrieges in allen Lebensbereichen geprägt. Die Regierung war gewillt, Industrie, Wirtschaft und den Bau wieder anzukurbeln und voranzutreiben. Die Wirtschaft stagnierte aber aufgrund des immensen Arbeitermangels.

Um diesen Konflikt zu lösen, schloss Deutschland ein Anwerbeabkommen mit umliegenden Ländern, sodass Arbeiter*innen zunächst ein befristetes Arbeitsvisum erhielten und in die Bundesrepublik einreisen durften.

Durch die angespannte wirtschaftliche Situation und die Arbeitslosigkeit in anderen Ländern erschien diese Chance für viele Arbeiter*innen als das non plus ultra. Ohne viel Zeit zu verlieren, bewarben sich nach und nach immer mehr Arbeiter*innen auf den Hilferuf der Bundesrepublik, und bevor man sich versah, hatte man schon eine hohe Anzahl an migrantischen Arbeitskräften überzeugt. Die erste Welle der Arbeiter*innen kam in den 1960ern aus Griechenland, Italien und Spanien. Kurze Zeit später migrierten dann auch schon die ersten Türkeistämmigen Arbeiter*innen.

Da die Situation es verlangte, kamen sie zunächst ohne ihre Familien. Dankbar für die Chance, überhaupt Geld zu verdienen, akzeptierte man es. Dabei sollte dies nicht die einzige Herausforderung sein, denen sich die Arbeiter*innen gestellt haben. Neben der Sprachbarriere, die die Arbeiter*innen lange Zeit von der deutschen Gesellschaft isoliert leben ließ, waren auch die Arbeitsverhältnisse prekär. Neben unzähligen Überstunden und den miserablen Lebensumständen wurde in den Fabriken Schwerstarbeit geleistet.

Anstelle von Verständnis und kultureller Öffnung wurden die Gastarbeiter mit einer Ablösesumme dazu „eingeladen“, das Land wieder zu verlassen. Auch wenn einige Gastarbeiter dieser „Einladung“ folgten, entschied sich die absolute Mehrheit für ihre neue Heimat, die Bundesrepublik.

Nach Jahren kam die Erlaubnis für Familienzusammenführungen. Immer mehr Arbeiter*innen durften endlich ihre Familien nach Deutschland holen. Die Entscheidung sollte das Leben von nachfolgenden Generationen prägen. Ohne die konkrete Intention, langfristig zu bleiben, zogen Frau und Kinder nach oder kamen hier zur Welt.

Da in Deutschland jedes Kind schulpflichtig ist, meldeten Migrant*innen ihre Kinder an deutschen Schulen an und verlagerten Tag für Tag ihren Lebens- und Denkmittelpunkt in die Bundesrepublik. Die ersten Kinder türkischer, spanischer oder griechischer Abstammung wurden in Deutschland geboren. Je mehr Zeit verging, desto weniger dachte man darüber nach, wieder zurück in die Heimat zu migrieren.

Wenn wir heute also davon reden, dass die Gastarbeiter dieses Land mit aufgebaut haben, dann ist dies keineswegs so daher gesagt. Dennoch scheinen sie in der Geschichtsschreibung irgendwo zwischen Kaltem Krieg, Wiedervereinigung und anderen Krisen verschwunden zu sein. Selten fragte man uns Enkelkinder, wer unsere mutigen Großeltern waren oder wieso sie kamen. Stattdessen manifestierte sich mit der Zeit ihre Rolle des „Fremden“ in der neuen Heimat.

Dem soll nun Schritt für Schritt entgegengewirkt werden. Mit unserem Projekt „Enkelkinder erzählen Geschichten über ihre Großeltern“ erhielten Kinder und Enkelkinder von Migrant*innen die Möglichkeit, von ihren Gastarbeitergroßeltern zu erzählen. Mit Freude berichteten sie von ihren Erinnerungen, Lebensweisheiten und Begegnungen mit ihnen. Einige sahen es sogar als ihre Pflicht, ihnen diesen gebührenden Respekt zu zollen.

Im Rahmen des Projektes konnten wir viele Geschichten sammeln, die alle auf ihre Weise schön erzählt wurden. Dabei konnten wir Enkelkinder von klein bis groß begeistern daran teilzunehmen. Leider waren unsere Mittel aufgrund der Pandemie beschränkt. Wir freuen uns aber, dass dennoch viele Migrantenenkel an diesem Projekt teilgenommen haben. Ich habe in Gesprächen mit den Teilnehmern feststellen können, dass sie sich „mehr Projekte dieser Art wünsche[n], die den interkulturellen Austausch bestärken.“

Stolz zeigten sie mir mitgebrachte Bilder von ihnen und ihren Großeltern und erzählten mir von all den Dingen, die sie von ihnen lernten. Eine wichtige Rolle für unser Projekt hat auch der Fotograf Ulrich Püschmann eingenommen.

„Mit sehr viel Freude habe ich mich gleich zu Anfang mit der Aufgabenstellung befasst, Enkel, deren Großeltern vor Jahrzehnten zum Arbeiten nach Deutschland kamen, Enkel, die die Werte ihrer Großeltern fast emotional ausdrückten, zu portraitieren.[…] Auch bei diesen Arbeiten habe ich meine Fotografie als eine besondere Art der künstlerischen, intuitiven Fotografie verstanden, mit dem Ziel, den ganz besonderen Moment, den besonderen Ausdruck der Personen zu schaffen.“ (Ulrich Püschmann)

Mit seiner einfühlsamen und professionellen Art gelang es ihm, das Vertrauen seiner Fotomodelle zu gewinnen:
„Menschen lassen sich gerne von ihm fotografieren, um uns eine Botschaft zu vermitteln. […] Die Fotos von ihm haben eine Geschichte, die uns zum Nachdenken anregen, damit auch wir als Menschen Menschen begegnen, ohne Vorurteile. Als Dichter entdecke ich in seiner Fotografie die Poesie, die ich als Brücke zwischen den Kulturen sehe.“ (Hidir E. Celik)

Im Rahmen dieses Projektes fotografierte Püschmann einige der teilnehmenden Enkelkinder. Jene Portraitaufnahmen wurden dann am 13. Dezember 2021 im MIGRApolis-Haus der Vielfalt im Rahmen des interkulturellen Konversations-Cafés ausgestellt. Mit großer Neugierde und Bewunderung wurden sie von den Anwesenden wahrgenommen. Zu diesen Portraitaufnahmen präsentierten wir Eindrücke und Zitate der Enkelkinder, um den Anwesenden zu verdeutlichen, dass hinter all diesen Gesichtern Geschichten stecken und dass die Enkelkinder diese Geschichten genauso euphorisch und stolz präsentieren möchten, wie sich selbst.

„Vielen Dank, dass ich an so einem schönen Projekt teilhaben durfte und einen kleinen Beitrag zum Gedenken an meine Großeltern leisten konnte. Es ist wichtig, seine Wurzeln zu kennen und nicht zu vergessen. Ebenfalls war es sehr interessant, die Geschichten vieler anderer Menschen aus allen Altersgruppen zu hören und etwas über ihre Familien zu erfahren.(Ceren Yilmaz)

Nicht selten konnten sich die Anwesenden in den Zitaten anderer wiedererkennen. Neben dieser sehr schönen Fassade war den Anwesenden allerdings die Relevanz dieses Projektes klar. Sie alle verstanden, dass diese Begeisterung und dieses Engagement seitens der Enkelkinder ihre Großeltern vorzustellen, nicht nur aus Liebe und Respekt ihnen gegenüber geschah.

„Inzwischen sind über 65 Jahre seit dem Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und Ländern wie Italien, Griechenland, Spanien sowie der Türkei vergangen. Durch dieses Projekt wurde aus der Sicht der Enkelkinder aufgezeigt, was ihre Großeltern wollten und welche Werte sie ihnen vermittelt haben.“ (H. Celik)

Die Enkelkinder haben die Werte und Grundsätze, die Celik in seinem Zitat erwähnt, präsentiert, um ein gegenseitiges Verständnis in einer interkulturellen Gesellschaft zu verstärken.

Ich selbst habe in meinem Beitrag als Enkelkind zum Ausdruck gebracht, dass meine Großeltern zu Beginn nicht die Intention besaßen zu bleiben. Die Bundesrepublik hat ihnen damals auch nicht den Eindruck vermittelt, als wollten sie das Gegenteil. Dadurch bedingt lebte meine Elterngeneration dann in der Kluft zwischen deutscher und türkeigeprägter Kultur. Die Fragen, die wir Enkelkinder aus dritter Generation uns stellen, gleichen jedoch nicht jenen Fragen unserer Eltern oder gar Großeltern. Zurück in die Türkei zu migrieren, ist nie eine Option für uns gewesen und wird es auch nicht sein. Wir sind ein Teil der Bundesrepublik und leben ein interkulturelles Leben mit Chancen und Hindernissen.

Durch Projekte dieser Art erhoffen wir uns, mehr Kommunikation in der Gesellschaft zu schaffen und auch, dass unsere Großeltern die Anerkennung bekommen, die sie verdienen. Wir beabsichtigen, Migration und Interkulturalität in Deutschland zu normalisieren, indem wir Themen wie „Gastarbeiter-Generation“ für andere sensibilisieren. Dies gelingt allerdings nur durch staatliche Interventionen und gezielte Projekte wie das unsere. Schulen sollten z.B. auch Gastarbeiterliteratur gleichwertig behandeln und ihnen im Unterricht ein Sprachrohr geben.

 

Migrapolis Deutschland