Religion und Philosophie

Migrantinnen zwischen Herkunfts- und Zielland

von Songül Kaya

Das Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland wurde genau vor 60 Jahren, am 30. Oktober 1961, unterschrieben und galt bis November 1973. Trotz des dann verhängten Anwerbestopps lassen sich immer mehr Menschen aus der Türkei aus familiären und politischen Gründen in Deutschland nieder. Diese dauerhafte Migration aus der Türkei wirkt sich heute drastisch sowohl auf die türkische als auch auf die deutsche Politik aus. Mit anderen Worten kann man heute sagen, dass die Auswirkung der Migration sich heute für beide Länder vielschichtig bemerkbar macht. Darüber hinaus hängt die Entwicklungsrichtung des Integrationsprozesses der türkeistämmigen Migrant*innen mit einer besonderen Komplexität zusammen. Dieser läuft nicht immer und überall einheitlich, sondern enthält eine gewisse Pluralisierung der verschiedenen Ethnien der Türkei. In diesem Sinne bedeutet Migration für mehrere türkeistämmige Familien nicht nur eine Bewegung zwischen zwei geographischen Räumen, sondern auch einen Wechsel des soziokulturellen Kontextes, in dem diese die Möglichkeit haben, sich mit ihrer Herkunftsgeschichte auseinanderzusetzen.
Die 60 Jahre lange Migration aus der Türkei nimmt zwar heute aus verschiedenen Gründen zu, aber der Integrationsprozess lässt sich nicht für alle türkeistämmige Migrant*innen einfach gleich ausführen, da er sich in zwei machtpolitischen Rahmen vollziehen muss, die die Sozialisations- und Identitätskonstruktion der zugewanderten Familien einwirken.

Wie diese zwei machtpolitischen Rahmen auf die Sozialisations- und Identitätskonstruktion der türkeistämmigen Migrantinnen einwirken, wird in meinem Sammelbuch-Beitrag anhand biographisch-narrativer Interviews ausführlich dargestellt.

Als ich mich mit der Fragestellung dieses Beitrages beschäftigte, welche die Perspektive der türkeistämmigen Migrantinnen aus der zweiten Generation über 60 Jahre Arbeitsmigration zum Vorschein bringen sollte, erschien das Buch „Väter und Töchter“ von Bettina Flitner, in dem unter anderem ein Interview mit der engagierten Journalistin Düzen Tekkal und ihrem Vater vorhanden ist. Die Überschrift des Interviews lautet zwar „Die Mutigen“, wird aber mit einem Satz aus Düzen Tekkals Munde ergänzt: „Mein Vater sagt heute offen: Ich bin Feminist“ . Dieser einfache Satz mit einer klaren Information bedeutet vielleicht für die meisten deutschen Leser*innen, dass die Integration der Migrantinnen durch die einzelnen Vorreiterinnen wie Düzen Tekkal mit der Zeit gelingen kann, was auch verständlich und nachvollziehbar ist. Aber hier muss ich dabei auf eins hinweisen, dass der Satz von Düzen Tekkal für uns Migrantinnen mehr bedeutet, als eine gelungene Integration in die deutschen Strukturen. Denn er verbirgt in seiner Betonung den mehrfachen Kampf einer orientalischen Frau für und gegen die eigene Herkunftskultur, welche in sich noch posttraumatischen Auswirkungen der politisch-historischen Ereignisse (z.B. der Vertreibung, Vernichtung und Zwangsassimilation der nicht-muslimischen Bevölkerungsgruppen der Türkei) trägt.

Düzen Tekkal, die in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, identifiziert sich mit ihren kurdisch-jesidischen Wurzeln und setzt sich heute engagiert gegen den Genozid an den Jesiden und Kurden in Kriegsgebieten ein. An einer Stelle ihres Interviews erzählt die Journalistin, wie ihr Vater sie dafür motiviert und in ihrem Einsatz unterstützt hat. Ein großer Vorteil für sie: „Mein Vater hat immer zu mir gesagt: „Du musst eines Tages unsere Geschichte erzählen““ . In einer anderen Stelle des gleichen Interviews aber verrät sie, wie sie sich gegen die Vorschriften ihrer Familie bzw. gegen die Normen ihres Kulturkreises durchsetzen musste: „…Selbst als die Tochter nach dem Abitur Politik und Literaturwissenschaft studieren wollte und das auch noch in einer anderen Stadt, war der Vater auf ihrer Seite. Aber da fingen die Probleme an. Plötzlich mischten sich seine Brüder ein. „Eine Frau muss nicht studieren, sie heiratet und bekommt Kinder. So ist das bei uns Jesiden!“ Vater und Tochter gerieten unter Druck. Auch außerhalb der Familie mehrten sich die kritischen Stimmen in der jesidischen Community. Nur gab es für das Mädchen da schon kein Zurück mehr. Es war einfach zu stark geworden. „Ich habe alles auf den Kopf gestellt und den Bruch riskiert. Ich habe die Familie vor die Wahl gestellt: „Wenn ihr so weiter macht, muss ich gehen.““ Nach der Formulierung der deutschen Autorin und Fotografin Bettina Flitner, die das Interview durchführte, „Die Tekkals lenkten ein.“

Meiner Meinung nach, handelt es sich hier vor allem um die zwiespältige Erwartungshaltung der kurdisch-jesidischen Großfamilie gegenüber der Lebensart und den mit dem gebundenen Einsatz einer emanzipierten jesidischen Frau, die von einer Seite über den Genozid an den Jesiden schreiben soll, aber von der anderen Seite sich der traditionellen Frauenrolle in ihrer Kollektive anpassen muss. Also, eine ambivalente Haltung der kurdisch-jesidischen Familie Tekkals, die vielleicht aus der westlichen Außenperspektive nicht leicht beobachtet werden kann.

Gerade aus diesem Grund zeigte mir das Interview mit Düzen Tekkal, wie ich meine Fragestellung für die deutsche Mehrheitsgesellschaft konkretisieren bzw. verständlicher formulieren könnte.

Wie entwickelt sich der Individuationsprozess einer türkeistämmigen Migrantin aus der zweiten Generation, deren Eltern bzw. Vorfahren wegen ihrer ethnisch-religiösen Zugehörigkeit in der Türkei verfolgt worden sind?

Wie geht sie heute mit der Herkunftssprache ihrer Eltern bzw. Vorfahren um, die in der Türkei verboten ist?

Inwieweit identifiziert sie sich mit der im Herkunftsland unerwünschten und verbotenen Glaubensrichtung ihrer Vorfahren?

Versucht sie heute in ihrer eigenen Kernfamilie, die nicht ausgelebte Kultur und Mentalität ihrer Vorfahren wiederzubeleben?

Welche politischen Ressourcen der demokratischen Gesellschaft im Zielland nimmt sie als eine Möglichkeit für ihren Individuationsprozess wahr?

Unabhängig von dem oben genannten Interview mit Düzen Tekkal habe ich vier Frauen aus der zweiten Generation, zum Anlass der 60 Jahre Arbeitsmigration, interviewt, die so wie Düzen Tekkal türkeistämmig sind, aber zu den unterdrückten ethnischen Minderheiten der Türkei (Armenier, Aramäer, Aleviten und Kurden) angehören. Ihre Antworten auf meine Fragen deckten fast die gleichen Problemzonen in ihren Biographien auf.

Die vier Interviewpartnerinnen

Alle vier Interviewpartnerinnen haben zeitliche und räumliche Parallelen in ihren Migrationsgeschichten. Sie kennen sich aber nicht untereinander und gehören zu unterschiedlichen Ethnien der Türkei. Durch ihre Erzählungen erfährt man, wie unterschiedlich die Familien bzw. einzelne Interviewpartnerinnen mit den Konflikten des Migrationsprozesses umgegangen sind.

Die armenische Interviewpartnerin Arlet Marie (55), geboren in Istanbul, verbringt erste Jahre ihrer Kindheit in Istanbul bei ihrer Großmutter und kommt mit 5 Jahren nach Deutschland zu ihren Eltern nach Mülheim an der Ruhr. Sie lebt als Armenierin ihre ethnische, sprachliche und religiöse Identität fast problemlos und vollständig ohne Zwangsassimilation aus, weil sie sich seit ihrer Kindheit in einem geschützten Raum in Deutschland befindet. Hier hat sie eine wohlhabende/gebildete Familie und die größte armenische Gemeinde in Köln. Erst während ihrer Ehe stellt sie fest, dass ihr Mann bzw. seine Familie als Armenier unter dem Einfluss des kurdischen Kulturkreises steht. Sie bewertet diese Situation in ihrer Narration mit folgenden Worten: „Was die Armenier in Istanbul mit den Türken erlebt haben, haben die Armenier in Diyarbakır mit den Kurden erlebt.“ Hier berichtet sie über die Teil-Assimilation der armenischen Familie ihres Mannes an die kurdisch-sunnitische Gesellschaft, welche Sprache, Kultur und Mentalität betrifft. Dennoch bezeichnet sich die armenische Familie ihres Mannes immerhin als armenisch und versucht in Deutschland christliche Rituale weiter zu behalten. Zum Beispiel, ihre Kinder in der Kirche taufen zu lassen, in die Kirche zu gehen, was in der Türkei wegen der Assimilationspolitik des türkischen Staates nur kaum machbar ist.

Die Assimilation der christlichen Bevölkerung in Südost-Anatolien an die dort lebende Mehrheitsgesellschaft wird auch in der Narration der aramäischen Interviewpartnerin Nezire Demirci (48) als zwangshafte Assimilation deutlich beschrieben. Sie erzählt, wie ihre Vorfahren (von beiden Elternteilen) versuchten, sich an die Kurden und Zazakis sowohl sprachlich als auch kulturell und mental anzupassen, um überleben zu können. Jedoch bleibt die religiöse Zugehörigkeit bestehen, und sie werden weiterhin von Kurden und Zazakis als Aramäer benachteiligt und diskriminiert. Nezire kommt in Adıyaman auf die Welt und wird dort in einer aramäischen Kirche getauft. Sie wächst allerdings in Istanbul auf, da ihre Eltern als Christen nach Istanbul umziehen bzw. „in die Anonymität der Großstadt fliehen müssen“. Doch diese Binnenmigration reicht der Familie wohl auch nicht, um ein friedliches sicheres Leben in der Türkei zu führen. Mit sieben Jahren flieht Nezire deswegen mit ihren Eltern nach Deutschland. Direkt nach der Ankunft stellt die Familie in Köln einen Asylantrag.

Die kurdisch-alevitische Interviewpartnerin Sevgi (54), geboren in Istanbul, zieht erst als Kleinkind mit ihrer Mutter in die Osttürkei zu ihren Großeltern ins Dorf, während ihr Vater als Gastarbeiter nach Deutschland kommt. Nach dem Tod ihres Großvaters im Dorf beschließt die Familie, zurück nach Istanbul zu ziehen. Drei Jahre später im Jahr 1979 wird Sevgi mit ihrer Mutter und zwei Geschwistern von ihrem Vater durch Familienzusammenführung nach Deutschland geholt. Sevgis Familie nimmt bewusst Abstand zu der türkisch-sunnitischen Gesellschaft in Deutschland, wobei Sevgi in der Schule als eine „türkische“ Schülerin angesehen und in der Vorbereitungsklasse mit weiteren türkischen Kindern unterrichtet wird.

Die “türkische” Interviewpartnerin Mercan Karakoçan (52) berichtet in ihrem Interview über die Voll-Assimilation ihrer Vorfahren. Durch diese Voll-Assimilation muss sie in einem türkisch-sunnitischen Kulturkreis aufwachsen, ohne zu ahnen, dass ihre Familie kurdisch-alevitische Wurzeln hatte. Mercan wird in Istanbul geboren, und als ein Baby reist sie sowie ihre zwei Geschwister mit ihrer Mutter nach Deutschland „zum Papa“, der schon längst als Gastarbeiter in Köln bei den Ford-Werken arbeitet. Danach, als Mercan neun Jahre alt ist, kehrt die Familie ohne Vater zurück in die Türkei. Nach einem dreijährigen Aufenthalt in Istanbul entscheidet sich der Vater noch einmal um und holt seine Familie wieder nach Deutschland. Mercan heiratet „viel zu früh“, um sich von den Vorschriften ihres Vaters zu befreien. 18 Jahre später lässt sie sich aber scheiden, weil sie die unglückliche Ehe nicht mehr ertragen kann. Trotz ihrer vier Kinder wird sie während und nach der Scheidung von ihrem Exmann bedroht. Ihre Familie bzw. ihre Verwandten lehnen sie als „Die Schande der Familie(!)“ ab. Mercan entscheidet sich für eine Zwangsmigration, ihrem Exmann zu entkommen und lässt sich allein -ohne ihre Kinder, in Holland bei ihrer Tante nieder. Aufgrund einer Erkrankung ihrer Tochter kehrt sie aber sechs Jahre später zurück und bleibt für ihre Kinder endgültig in Deutschland.

Im Vergleich zu den anderen Interviewpartnerinnen ist die Geschichte von Mercan etwas komplizierter. Sie kann man aber mit der Sevgis Migrationsgeschichte gegenüberstellen, weil beide Interviewpartnerinnen kurdisch-alevitischen Wurzeln haben und bis zu ihren 12. Lebensjahr drei Mal ihre Lebensräume wechseln mussten, ohne zu wissen, was danach kommt.

Durch die Erzählsegmente der beiden Interviewpartnerinnen ist noch festzustellen, wie die kulturellen und religiösen Werte der beiden Familien auf die Individuationsprozesse der betroffenen Migrantinnen einwirken. Sevgi ist zwei Jahre älter als Mercan. Die beiden Interviewpartnerinnen haben zwar einige Parallelen, aber einen vollkommen unterschiedlichen Umgang mit wichtigsten Entscheidungen, die man in ihren Lebensgeschichten als Wendepunkte bezeichnen kann.

In ihren spontanen Erzählungen ist noch eine Gemeinsamkeit zwischen Mercan und Sevgi festzustellen. Beide erfahren zum ersten Mal durch das Nachfragen ihrer Mitschülerinnen, dass sie Aleviten sind. Beide sprechen ihre Mütter darauf an, und beide Mütter zeigen die fast gleiche Reaktion auf die Frage: „Mama, sind wir Aleviten“. Durch die von den Interviewpartnerinnen geschilderten Szenen kann man merken, dass die Zugehörigkeit zum Alevitentum als ein Geheimnis bzw. als ein Tabuthema in beiden Familien angesehen wird. Obwohl Mercans Familie sich komplett an die türkisch-sunnitische Community angepasst hat, sind beide ihrer Elternteile sehr vorsichtig mit dem Thema. Mutter und Schwester von Mercan tragen Kopftuch und gehen in die Moschee. Sie platzieren sich in der Milli-Görüş-Szene. Die Familie von Sevgi spricht zwar immerhin Kurdisch und übt zum Teil alevitische Rituale aus, aber nur zu Hause.

Aus vier biographisch-narrativen Interviews sind folgende Schlussfolgerungen zu ziehen, welche einen Forschungsbedarf in der Migrationspolitik darstellen.
a) Die drei Interviewpartnerinnen (außer Arlet Marie Azadian) haben Binnenmigration und eine mehrfache Zwangsassimilation (sprachlich, kulturell, religiös) hinter sich, bevor sie nach Deutschland kamen.
b) Diese fühlen sich heute in Deutschland wohler, weil sie sich erst hier mit der Herkunftsgeschichte ihrer Vorfahren auseinandersetzen können/dürfen, was in der Türkei weder politisch noch gesellschaftlich erlaubt ist.
c) Dabei sind die vier Interviewpartnerinnen zum Teil unsicher, wenn sie ihre ursprüngliche Identität in der türkisch-sunnitischen Community (auch hier in Deutschland) preisgeben müssen.
d) Sie leiden unter einer quälenden Ungewissheit über ihre ethnisch-religiösen Wurzeln und versuchen bewusst oder unbewusst, die posttraumatischen Folgen des Genozids, welchen ihrer Vorfahren durchgemacht haben, zu überwinden.
e) Die vier Interviewpartnerinnen möchten nicht mehr von der deutschen Mehrheitsgesellschaft als „türkisch-sunnitisch“ wahrgenommen werden, sondern als türkeistämmige Aramäer, Armenier, Kurden bzw. als Aleviten und Christen Anerkennung gewinnen.

 

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