DIE HISTORISCHE BIOGRAPHIE MEINER FAMILIE MÜTTERLICHERSEITS WÄHREND DES NAZIFASCHISMUS
Von Giorgia Sogos
Während meiner langjährigen Forschungstätigkeit zum Thema „Exil und Migration in der deutschsprachigen Literatur“ habe ich das Schicksal der Anderen aus der Lupe des Forschers kritisch beobachtet und mit einem gewissen Abstand betrachtet. Das ist jedoch die Aufgabe des Wissenschaftlers selbst, der sich an die Fakten halten muss und seine kritischen Ansichten in den Diskurs einfließen lässt. Alles sollte im Rahmen der Forschung auf einer bloß objektiven Ebene bleiben. Auf der menschlichen Seite kann man sich allerdings dem Mitgefühl für das Leiden des Menschen sowie dem Verstehen für die tragischen Ereignisse, die er erlitten hat, nicht entziehen.
Als ich tiefer in meine Familiengeschichte einstieg, habe ich entdeckt, dass auch die Ahnen meiner mütterlicherseits Familie, die Wiquels, ein Schicksal ähnlich wie das vieler Vertriebenen erlebt haben. Andererseits haben einige ihrer Vertreter mit ihren eigenen Handlungen und Entscheidungen den Lauf der Geschichte für immer geändert. Die Privatgeschichte mischt sich daher mit der Weltgeschichte, und zwar mit der dunkelsten Zeit des 20. Jahrhunderts, den Jahren des Nazifaschismus. Das macht meine Familiengeschichte selbst noch dramatischer und ebenso würdig, erzählt zu werden. Zu dieser Entdeckung kam ich erst nach dem Tod des Cousins meiner Mutter, der dem Wiquel-Zweig ein kostbares und unschätzbares Erbe hinterlassen hat: Eine Sammlung von alten Briefen und historischen Dokumenten. Diese Dokumentation hat dazu beigetragen, die Geschichte der Familie teils zu rekonstruieren. Der Trauer hat sich aber am Ende in etwas Positives verwandelt, da ich mich ohne dieses Erbe nie gedacht hätte, in die Vergangenheit zu graben. Dieses Ereignis hat mich so den Anlass gegeben, mich Fragen über die Herkunft meiner Familie sowie auch über den Ursprung dieses Familienamen „Wiquel“ zu stellen, der nicht als einen typischen Nachnamen aus Italien klingt. Das Erbe dieses alten Verwandten hat mich gleichzeitig zurück in die Kindheitserinnerungen gebracht. Dort habe ich die Erzählungen meines Großvaters wiedergefunden, der uns über seine Familiengeschichte erläuterte. Jene Erzählungen, die damals als Kinder unsere Phantasie entflammten, haben Jahre später eine ganz andere Bedeutung. Die Ereignisse, die von ihm und seinen Familienmitgliedern erlebt wurden, sind Teil der Geschichte des Nazifaschismus. Auch die Familienmitglieder wie der Kardinal Luigi Maglione und später vatikanischer Staatssekretär in Rom spielten eine wichtige Rolle auf dem politischen und internationalen Schauplatz jener Zeit.
Die Wiquels haben im Lauf der Geschichte viele entscheidenden sowie dramatischen Erfahrungen erlebt, die sich vom 16. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg erstreckten.
Mein Versuch, die Familiengeschichte meiner Mutter zu rekonstruieren, fließt mit dem Verantwortungsbewusstsein zusammen. Es handelt sich in der Tat um Ereignisse, die einen unauslöschlichen Spur in der Weltgeschichte hinterlassen haben. Das gehört unserem historischen Gedächtnis und genau aus diesem Grund muss es nicht in Vergessenheit geraten werden.
Foto von Giorgia Sogos