Nastja ist ein siebenjähriges geflüchtetes Mädchen aus der Ukraine. Sie wohnte in einer Unterkunft für Ukrainer mit ihren Geschwistern und Eltern. Und besuchte das von der Aktion Mensch finanzierte Projekt „Spielerisch lernen“. Sie war aufgeweckt, freundlich, liebevoll, lernwillig, aber am letzten Tag von unseren Unterrichtsstunden (das Projekt war als Ferienprogramm gedacht), fing sie an, entsetzlich zu weinen. Wir fragten nach dem Grund, versuchten sie zu beruhigen, sprachen ihr gut zu. Aber sie hörte nicht auf, sich aufzuregen, murmelte unverständliche Wörter und Sätze vor sich hin und weinte. Am Ende aber erzählte sie uns eine Geschichte… Nastja lebte in der Ukraine auf einem Bauernhof mit ihren Eltern, Geschwistern und Tieren… Sie ging zur Schule, spielte mit ihren Freundinnen auf dem Hof, sie war mit einem Wort ein fröhliches, angstloses, mutiges Mädchen. Und wie alle kleinen Mädchen träumte sie von ihrem Geburtstag. Sie träumte von einem bestimmten Geschenk: die Babypuppe, die schon einige ihrer Freundinnen hatten. Sie stellte sich vor, wie sie damit spielen konnte, wie sie mit Puppenwagen und der neuen Babypuppe auf dem Hof spazieren gehen konnte. Was hätten ihre Freundinnen bloß gesagt? Hätte ihre Puppe auch denen gefallen? Vorsichtshalber bat sie ihre Mutter, damit es keine „Überraschungen“ an ihrem Geburtstag gäbe, wenn es nicht zu teuer wäre, ihr so eine Puppe zum Geburtstag zu schenken. Die Mutter war damit einverstanden, allerdings Nastja musste mehr auf dem Hof helfen, mehr Zeit für ihre Geschwister aufbringen.
Nastjas nachträgliche Geburtstagsfeier, organisiert von der Integrationsagentur EMFA mit dem Projekt „Spielerisch Lernen“ des von der Aktion Mensch finanzierten Projekt „Leuchtturm Mariupol“.
Ach, die Tage vergingen zu langsam, Nastja zählte jede Minute – noch sieben Mal schlafen, fünfmal, dreimal… Nachts an ihrem Geburtstag wurde sie von furchtbarem Sirenengeheul wach. Ihre Eltern und Geschwister liefen wie die Irren durch das Haus, suchten Kleider für sich und für ihre kleineren Geschwister. „Was ist passiert?“ schrie sie in der Hoffnung, dass irgend jemand sie hören konnte. „Zieh dich endlich an!“ war die gereizte Antwort ihrer großen Schwester. „Was ist los?“ fragte sich Nastja und sie fing an zu weinen, das Nachbarhaus explodierte, ist das Krieg? Sie mussten von einem Augenblick auf den anderen das Haus verlassen, in dem sie seit ihrer Geburt lebte. An ihrem Geburtstag saßen alle Familienmitglieder im Auto und fuhren weit weg von ihrem Zuhause, dorthin wo das Sirenenheulen nicht mehr zu hören war, dort wo Häuser noch ganz waren.
Angesichts der Tatsachen, Nastja schämte sich sehr, aber sie musste unbedingt fragen: „Mama, ich habe doch heute Geburtstag.“ – „Ja, mein Engel“, antwortete die Mutter. „Mama, werde ich die Babypuppe bekommen?“ Die Mutter senkte ihren Kopf nach unten und ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie weinte.
Nastja hat ihr so sehnlich erhofftes Geschenk zu ihrem Geburtstag nicht erhalten, hatte dafür ihr Zuhause, den Hof mit Tieren und alle ihre Spielzeuge verloren. Nastja weinte hemmungslos, um ihr verlorenes Zuhause, ihre Freundinnen, ihre Kindheit.
Projekt „Leuchtturm Mariupol“
Nino Müntnich