Literatur

Unter dem Tschador meiner Mutter: Buchkritik

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Die im Iran geborene Autorin Behjat Mehdizadeh hat in ihrem Buch „Unter dem Tschador meiner Mutter“ neun Kindheitserzählungen veröffentlicht, in denen sie liebevoll ihre
Erinnerungen literarisch umsetzt. Susanne Konrad hat das Buch mit Freude gelesen und empfiehlt es sogar für den Einsatz im Unterricht.

Kindheitsgeschichten voller Poesie

In den neun Erzählungen von Behjat Mehdizadeh erwacht eine ferne, längst vergangene Welt zu neuem Leben: Da ist ein Haus mit Garten, in dem zahlreiche Blumen wachsen, da
sind die Zimmer und der Hohlraum unter der Treppe, in dem sich das kleine Mädchen mit Teppichresten, einer Decke und einer Stoffpuppe ein Zuhause eingerichtet hat. Wir
begegnen Babo, der als Militärarzt häufig außer Haus ist, begegnen den beiden älteren und den beiden jüngeren Geschwistern und vor allem der stets schönen und edlen Maman, die bei allem Haushaltsstress ihre Kinder über alles liebt. Unter ihrem Tschador findet die Erzählerin Schutz und Geborgenheit.

Der Schleier ist hier nichts, was Angst macht. Mag er von außen dunkel wirken, im Inneren unter seiner Hülle erwarten das Kind Zärtlichkeit und Wärme. Der Alltag im Persien der
1960er-Jahre ist ganz selbstverständlich mitzuerleben, aus der Perspektive des kleinen Mädchens. Dieser Alltag, aus Sicht des Elternhauses und seiner Umgebung, ist das Vertraute, das Normale und das Gewohnte. Da ist keine Erklärung, keine Rechtfertigung. Die Liebe des Kindes zu seinen Eltern und Geschwistern, besonders aber zu der Mutter, wird deutlich spürbar.

Es ist erstaunlich, wie genau Behjat Mehdizadeh sich an die Umgebung und die Ereignisse ihrer frühen Kindheit erinnern kann. Die Erzählungen sind nicht rasch hingeworfen, sondern ihre Konzeption und Niederschrift bedurfte jahrelanger Arbeit. Die einzelnen Geschichten entstanden zwischen den Jahren 1999 und 2018. Wie eine Archäologin trägt die Autorin die Mosaiksteine der Erinnerung zusammen und erreicht eine außerordentliche Präzision. Dies ist nicht zuletzt Behjat Mehdizadehs Tätigkeit als Leiterin von Biografie- und
Erinnerungswerkstätten geschuldet, bei denen sie anderen Frauen mit Migrationshintergrund hilft, verdrängte Kindheitserinnerungen ans Licht zu holen und Lebensbrüche, die durch Migration entstanden sind, zu verarbeiten.

Für mich ist aber das Besondere an den Geschichten ihr hoher poetischer Gehalt. Die Texte sind feine Gewebe von minimalistischer Ereignishaftigkeit, aber mit starkem Gefühl. So wird durch die Augen des kleinen Mädchens auch die Gefühlslage der Mutter sichtbar. Am Beispiel der Geschichte „Meine Dolly“, die erstmals in der Anthologie „Frankfurterinnen“ des Literaturclubs der Frauen aus aller Welt (Größenwahn Verlag, 2015) erschienen ist, möchte ich das erläutern: Die Familie plant eine Reise nach Kerman, der Geburtsheimat der
Erzählerin. Ihre Mutter ist ganz aufgeregt, denn sie hat großes Heimweh. Sie hat ein starkes Verlangen, ihre Angehörigen wiederzutreffen, die sie nur noch selten sehen kann, und kauft unzählige Geschenke. Dem Kind aber ist etwas ganz anderes wichtig. Es spart sein ganzes Taschengeld für eine schöne Puppe, die es im Schaufenster eines Spielwarengeschäftes gesehen hat, und insgeheim „meine Dolly“ nennt. Mit ihrem Bruder organisiert das Mädchen eine Art Heimkino mit Projektor. Zu der Vorführung werden zahlreiche Freundinnen und Freunde eingeladen, die alle Eintritt zahlen müssen. Nach diesem Ereignis kann sie sich ihre Puppe endlich leisten. Die Mutter näht Dolly ein Kleid und die Erzählerin lackiert ihr die Nägel – dann geht es auf nach Kerman. Der Aufenthalt macht der ganzen Familie viel Freude, doch dann geschieht das Entsetzliche: Die Mutter, die sich nur unter Tränen von ihrer Familie trennen kann, verlangt, dass die Erzählerin ihre Puppe der Cousine schenkt – als Dankeschön für die schöne Zeit und weil die Cousine bei der Ankunft kein Geschenk erhalten hatte.

Der Schmerz des kleinen Mädchens wird überaus deutlich, weil die Gefühle auch der Mutter nicht ausgeblendet werden. Außerdem wird mit allen Raffinessen der Erzählkunst auf diesen Höhe- und Schlusspunkt hingearbeitet. Dabei wird niemals dick aufgetragen, sondern es geht um die Kunst des Details und des scheinbar Nebensächlichen. Das erkennt man u. a. an der Geschichte mit dem Heimkino, die nicht nur zeigt, wie die Geschwister miteinander leben und was sie gemeinsam machen, sondern auch, was das Mädchen alles unternimmt, um an die geliebte Puppe zu gelangen – die ihre Mutter dann schnöde herschenkt.

Mit einer solchen Pointe schließt jede dieser neun Geschichten, von denen die übrigen nur in diesem Buch „Unter dem Tschador meiner Mutter“ zu lesen sind. Ich finde die Erzählungen nicht nur deshalb wunderschön, weil sie Kindheitserinnerungen wecken und die Liebe zu den eigenen Eltern stärken, sondern auch, weil sie ein Heilmittel gegen die Angst vor islamischen Lebenswelten sein können, denn alle Kultur wird sehr liebevoll und sehr selbstverständlich beschrieben, sodass ich das Buch (oder einzelne Geschichten daraus) auch für den Schulunterricht nur empfehlen kann.

Behjat Mehdizadeh wurde 1957 in Kerman, Iran, geboren. Sie studierte an der Firdausi-Universität in Maschhad/Iran Psychologie. Nach der Einreise nach Deutschland nahm sie an
der FH Frankfurt am Main ein Studium der Sozialarbeit auf mit Schwerpunkt Migration, Biografie und Kunst auf. Sie arbeitet als Beraterin für interkulturelle Pädagogik und
Kommunikation. Sie initiierte und leitet die Kreative Biografie- und Erinnerungswerkstatt in Frankfurt. 1997/2001 war sie Mitbegründerin des Literaturclubs der Frauen aus aller Welt,
einer Vereinigung literarisch schreibender Frauen zumeist anderer Herkunftsländer. Behjat Mehdizadeh war von 2012-2014 Stadtteilhistorikerin bei der Stiftung Polytechnische
Gesellschaft Frankfurt. Im Jahr 2013 wurde sie als Autorin der Bibliothek der Alten im Historischen Museum Frankfurt geehrt, die heute den Namen „Bibliothek der Generationen“
trägt. Für diese ist sie als Autorin und Coach tätig. Buchveröffentlichung: „Wie Erinnerung Geschichte schreibt.“ Brandes & Apsel, Frankfurt, 2015

Dr. Susanne Konrad
Frankfurt a.M. 26.01.2020

Behjat Mehdizadeh, Foto: Free Pen Verlag

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