Hıdır Çelik wurde 1960 in der Türkei geboren. Seine Eltern gehörten zur ersten Generation der sogenannten „Arbeitsmigranten“. Nach seinem Abitur kam er Ende 1978 nach Deutschland. Ab 1985 studierte er Politologie, Soziologie und Germanistik. Mit einem Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung promovierte er 1995 über „Die Migrationspolitik bundesdeutscher Parteien und Gewerkschaften.“
Heute ist er Leiter der Evangelischen Migrations- und Flüchtlingsarbeit des Ev. Kirchenkreises Bonn (EMFA) / Integrationsagentur. Er war Gründer und langjähriger Vorsitzender (1995 bis 2018) des Bonner Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelles Lernen (BIM) e.V. Er setzt sich aktiv gegen Hass und Diskriminierung ein. Im Juni 2016 wurde Hıdır Çelik mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.
Hier ein Interview für die Zeitschrift „Fifty-fifty“:
Herr Celik, herzlichen Dank, dass Sie sich Zeit für uns nehmen.
Wie geht es Ihnen heute?
In dieser Zeit, wo viele Menschen unter Corona leiden, denke ich, dass es mir gesundheitlich gut geht.
Sie haben uns einige sehr bewegende Gedichte zur Verfügung gestellt. Literatur und Schreiben sind eine große Leidenschaft von Ihnen?
Ja, zweifellos. Ich sehe Literatur als ein Spiegelbild der Gesellschaft. Durch Literatur kann man in die Mitmenschen hineinschauen, die aus sehr unterschiedlichen Kulturkreisen kommen, sehr unterschiedliche Biographien und unterschiedliche soziale Hintergründe haben. Dies alles gibt mir Impulse zu schreiben. Ohne Literatur kann ich mir kein Leben vorstellen.
Sie schreiben viel über Einsamkeit durch die Corona-Pandemie. Wie hat Corona Sie persönlich getroffen?
Wie viele andere auch, war ich auch mit Corona infiziert. Mir blieb verbborgen, wo ich mich angesteckt habe. Inzwischen bin ich genesen und auch geimpft. Sowohl während meiner Quarantäne als auch in der ganzen Pandemie stellte ich immer wieder fest, dass wir Menschen andere Menschen brauchen. Einsamkeit führt zur Isolation. Wir brauchen ein Miteinander, ohne zwischenmenschliche Beziehungen hat das Leben keinen Wert. Wir müssen dafür sorgen, dass wir trotz der Pandemie Wege finden, aus der Einsamkeit herauszufinden.
Sie sind erst als junger Mann nach Deutschland gekommen. Wie haben Sie Deutschland erlebt? Konnten Sie sich leicht einleben? Und wie haben Ihre Eltern das erlebt?
Als ich nach Deutschland kam, wollte ich nach dem Studium zurück in die Türkei gehen. Die politische Entwicklung in der Türkei, der Militärputsch 1980, hat dazu geführt, dass ich hier bleiben musste. In den ersten Jahren nach meiner Ankunft in Deutschland hatte ich bis 1985 in einer Metallfabrik gearbeitet. Aus einem Praktikum wurde eine lange Beschäftigung, in der Zeit war ich auch gewerkschaftlich aktiv. Die gewerkschaftliche Arbeit hat mich immer inspiriert, mich für Rechte der anderen einzusetzen. Ich sehe inzwischen, seit ich mit der Rückkehr in die Türkei abgeschlossen habe und hier eine eigene Familie gegründet habe, Deutschland als mein Zuhause. Inzwischen habe ich Enkelkinder. Als Familie befinden wir uns in der vierten Generation in Deutschland.
Auch meine Eltern wollten erst zurück in die Türkei, sie hatten beide bereits alles eingepackt, um 1980 in die Türkei zurückzukehren. Der Militärputsch hat auch ihre Pläne geändert. Mein Bruder, der in der Türkei lebte, wurde verhaftet, danach wurde die ganze Familie nach Deutschland geholt. Eine Rückkehr in die Türkei war ausgeschlossen. Meine Eltern haben Deutschland immer als ein Gastland betrachtet, aber dennoch sich hier wohler gefühlt als in der Türkei. Mein Vater lebte bis zu seinem Tod 2013 in Deutschland, meine Mutter lebt noch hier. Auch sie hat mit dem Kapitel Türkei abgeschlossen.
Warum haben Sie sich für die Studienfächer Politologie, Soziologie und Germanistik entschieden?
Politik und Gesellschaftsfragen sowie Literatur haben mich schon seit meiner Jugend sehr interessiert. Ich war als junger Mann politisch sehr aktiv und setzte mich für Menschenrechte, Demokratie und die Gleichberechtigung aller Menschen in der Türkei ein. Meine politische Haltung damals hat mich dazu bewegt, dass ich diese Studienfächer gewählt habe. Mit der Kombination dieser drei Fächer kann man die Gesellschaft besser analysieren und neue Perspektiven entwickeln.
Wollten Sie schon immer in der Flüchtlingsarbeit tätig werden?
Ich wollte immer Menschen helfen, sei es Geflüchteten, Arbeitsmigranten oder Unterdrückten. In erster Linie sehe ich mich als Mensch verpflichtet, denen zu helfen, die unsere Hilfe brauchen. Auch die Flüchtlingsarbeit gehört dazu. Ich bin aber auch in anderen Bereichen aktiv, unter anderem war ich 2004 bis 2010 Vorsitzender des Mieterbundes Bonn/Rhein-Sieg. Auch im Bereich der Migrationsforschung und als Lehrbeauftragter an der Uni Köln versuche ich, meine gewonnenen Kenntnisse aus dem Alltag in die Wissenschaft zu transportieren
Was macht Ihnen bei Ihrer Arbeit am meisten Spaß?
Menschen helfen und an neuen Ideen arbeiten, die uns alle bereichern.
Sie machen für die fifty-fifty eine Reihe zum Thema Einsamkeit. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
In der Vergangenheit habe immer wieder Reihen für die fifty-fifty gemacht. Es ist nicht das erste Mal. Einsamkeit ist ein Thema, was mich immer schon sehr beschäftigt hat, in der Pandemiezeit wurde es noch stärker. Mit diesem Thema möchte ich Menschen zu Wort kommen lassen, dass sie über ihre Erfahrungen und Erlebnisse berichten. Leider erreichen wir nicht alle Menschen, die von Einsamkeit betroffen sind. Es ist gegenwärtig ein Thema, unabhängig von Corona, die Entfremdung zwischen den Menschen hat in den letzten 50 Jahren stark zugenommen, und sie wird immer stärker.
Welche Bedeutung hat dieses Thema in ihrer täglichen Arbeit?
In der Sozialberatung und täglicher Begegnung stellen wir immer wieder fest, dass viele Menschen kaum intensive Kontakte mit anderen Menschen haben. Wir versuchen, soweit es geht, Begegnungsräume zu schaffen, damit die Menschen sich begegnen und zusammenkommen. Dadurch holen wir einige Menschen aus der Einsamkeit raus.
Gibt es ein Ereignis, welches Sie nachhaltig beeindruckt hat?
Davon gibt es viele, vor kurzem begegnete ich einem jungen Mann, so Anfang 40, er begrüßte mich beim Namen. Ich fragte, woher kennen wir uns denn? Er erwiderte, Sie haben bestimmt vergessen, ich war als Zwölfjähriger in den 90er Jahren mit Ihnen auf Freizeiten. Wir kamen ins Gespräch, dabei stellte sich heraus, dass es ein unbegleiteter Jugendlicher war und heute als Ingenieur arbeitet. Wenn ich solchen Menschen begegne, macht es mich glücklich, und es beeindruckt mich sehr. Was wir diesen Menschen gegeben haben, bekommen wir jetzt zurück.
Gibt es etwas, was Sie in ihrer Arbeit stört?
Dass ich immer wieder gefragt werde, ob und wann ich in meine alte Heimat zurückkehre. Noch störender ist es, wenn Menschen nach 65 Jahren Migration immer noch als „Türke“, „Iraner“ usw. in bestimmte Schubladen gesteckt werden. Es wäre schön, wenn wir Menschen als Menschen sehen.
Was wünschen Sie sich für 2022?
Ich hoffe, dass die Corona-Pandemie überwunden wird und dass die Menschen aus ihrer Einsamkeit herausfinden.
Gibt es etwas, dass Sie unseren Lesern mit auf den Weg geben möchten?
Offen zu sein für zwischenmenschliche Beziehungen, anderen Menschen begegnen, voneinander lernen. Man kann Vorurteile und Klischees über andere überwinden, wenn man miteinander ins Gespräch kommt.