Suche nach dem abwesenden Vater

Mouataz Alshaltouh
Lucia Peraza Rios
Chor des Migrantinnenvereins Dortmund e. V.
Rezension von Songül Kaya
Es ist kein Scherz. Ein Theaterspiel mitten in Deutschland wird gespielt, ohne dass die zweitwichtigste Hauptfigur Metin Kaya (Vater) auf die Bühne steigt. Keiner hat ihn gesehen. Doch er war dort anwesend!
Das Schauspielhaus Dortmund spielt:
Vatermal – Nach dem Roman von Necati Öziri
Hauptfigur Arda: gespielt von Mouataz Alshaltouh
Mutter der Hauptfigur Ümran: gespielt von Lucia Pereza Rios
Schwester der Hauptfigur Aylin: gespielt von Fabienne-Deniz Hammer
Vater der Hauptfigur Metin: ist nicht sichtbar! Abwesend!
Wenn die Stille spricht
Ein schwerkranker junger Mann steht vor dir und strahlt in deine Augen. Stille… In der Stille singt allein sein melancholischer Blick ein türkisches Lied, das du problemlos verstehst, obwohl du nicht türkischsprachig bist. Stille… Ein junger Mann steht vor dir und zeigt plötzlich einen dunklen Fleck unter seinem linken Auge. Stille… In der Stille läuft seine frustrierte Suche nach einer verlorenen Kindheit, die mit dem dunklen Fleck unmittelbar zu tun hat. Stille… Ein junger Mann steht vor dir, nimmt den dunklen Fleck mit dem Zeigefinger ab und pustet ihn weg. Stille… In der Stille taucht seine Leere in eine prähistorische Tiefe, wo auch deine Wurzel sich anschlägt. Punkt!
Ab jetzt keine Stille mehr zu hören. Weil der junge Mann, der vor dir steht, gerade sich mit dir verbunden hat.
Du bist sein Spiegelbild, das sich ein Teil der Gesellschaft nennt. Vielleicht bist du ein Polizist oder ein Sachbearbeiter in einem Amt? Vielleicht bist du seine Lehrerin, sein Nachbar oder Nachbarin, der/die gerade wohnt in der Wohnung nebenan. Und wahrscheinlich, gerade deshalb spricht der junge Mann dich direkt an:
„Heute Morgen stand ich vor dem Badezimmerspiegel, legte meinen Finger auf das Vatermal und fragte mich, wie mein Gesicht ohne aussehen würde. Als ich den Finger wegnahm, war der Fleck nicht mehr da. Er klebte an meiner Fingerkuppe. Ich holte tief Luft, schloss die Augen und pustete ihn weg.“
Der junge Mann, der gerade aus einem Roman ausgesprungen ist, und vor dir auf der Bühne steht, heißt Arda Kaya, ist geboren in Deutschland, lebt im Ruhrgebiet, liegt im Sterbebett eines Krankenhauses, spricht Deutsch, und gerade schreibt er in deiner Anwesenheit einen Abschiedsbrief an seinen Vater. Mit hoher Wahrscheinlichkeit aber wird sein Vater weder den Brief bekommen, weil Arda ihn weder vollenden kann noch ihn lesen und verstehen, weil er selbst kaum Deutsch geübt hat. Der Vater, der dem Arda seinen eigenen dunklen Fleck (Vatermal) vermachtet hat, lebt in der Zeit, während Arda mit dem Todesengel kämpft, in der Türkei und weiß nicht mal, was er gerade treibt. Also, du als Teil dieser Gesellschaft (nehmen wir an, dass du eine Krankenschwester/Krankenpfleger oder ein Arzt/eine Ärztin bist) stehst ihm eigentlich viel näher als sein Vater. Sein Vater, der Metin heißt, war nie da. Der ist abwesend! Und seine Abwesenheit ist so riesig, dass sie nicht nur die tiefe Innenwelt von Arda, sondern auch das ganze Krankenhaus überfüllt. Auch das Schauspielhaus in Dortmund ist von seiner Abwesenheit betroffen! Jetzt stell dir vor, du bist auch da, um den Schaden seiner Abwesenheit in Ardas Innenwelt zu prüfen.
Im und vor dem Schauspielhaus Dortmund
Necati Öziris Debütroman Vatermal wurde mehrfach gefasst und inszeniert. Eine von diesen Inszenierungen wurde an einem Samstagabend (26.04.2025) im Schauspielhaus Dortmund aufgeführt. Der Saal war voll. Die Zuschauer aus unterschiedlichen Altersgruppen und verschiedenen Kulturkreisen schienen zufrieden, sogar begeistert vom Spiel zu sein. Der explizite Grund dafür kann vielleicht der Inhalt des Theaterstücks sein; eine tragische Familiengeschichte. Nun, die Vermittlung dieser tragischen Familiengeschichte bzw. die authentischen Narrative der Hauptfigur, die in einer Briefform an den Vater gerichtet ist, intensivierte die Gefühlswelt allen anwesenden im Saal und nahm sie in Ardas Innenwelt mit. Deswegen war es keine Überraschung, als die Schauspielerin Lucia Peraza Rios (in der Rolle von Ardas Mutter Ümran) auf der Bühne zum Schluss bei der Begrüßung sich unauffällig umdrehte, um ihre Tränen wegzuwischen und ihre Nase zu putzen. Direkt nach dem Spiel konnte man vor dem Schauspielhaus die intensive-emotionale Synergie zwischen Schauspielenden und Zuschauenden deutlich weiterspüren, als sie in einer Raucherecke aufeinandertrafen.
Drei Erzählrahmen auf einer Bühne
Zwei Stunden lang wurden mehrere alltagsrelevante, aber ungehört gebliebene Probleme der Migrantenkultur in Deutschland mit ihren komplexen Hintergründen und deren Spätfolgen in den zugewanderten Familien (bzw. in der Gesellschaft) dargestellt. Die staatlichen Strukturen in der Migrationspolitik wurden durch die Innenperspektive der Migranten kritisiert. Die Identitätssuche und die damit verbundene Ausweglosigkeit der sogenannten nicht-deutschen Jugendlichen wurden in verschiedener Art und Weise unterstrichen. Neben all diesen sozialkritischen Themen waren auch folgenden drei unterschiedlichen Erzählrahmen bei der Inszenierung festzustellen.
1. Hauptfigur als Erzähler
Arda schreibt Briefe an seinen leiblichen Vater, den er nicht kennt. Diese Briefe in Form von Tagebucheinträgen werden in bestimmten Szenen an die Bühnenwand handschriftlich ständig reflektiert. Das Publikum kann sie zum Teil mitlesen. Arda berichtet in seinen Briefen grundsätzlich über seine Mutter, seine Schwester Aylin und der zwischen beiden herrschenden toxischen Mutter-Tochter-Beziehung, die in seinem Leben starke Prägungen hinterlassen hat und immer noch hinterlässt. Er erzählt seinem Vater auch von Besuchen bei Verwandten, welche ihn immerhin mit ihm identifizieren. Dabei hat aber Arda „nicht die leiseste Ahnung, was sie (z.B. Onkel Serkan) von ihm wollten“ In einer Szene schreibt er:
„Metin,
ich kann mich daran nicht erinnern, dass jemand deinen Namen jemals so ausgesprochen hat. Unsere Mutter spricht nie über dich und andere Erwachsene sagen immer nur, „dein Vater“. „Wo ist dein Vater, was arbeitet dein Vater?“ fragen sie und ich antworte dann, „Ich weiß es nicht.“ Und wenn sie fragen, warum weshalb kann ich nur zugeben, dass ich auch das nicht weiß und so geht es dann immer weiter, bis sie ihr Verhör beenden und mich mitleidig anschauen.
Ich würde das hier gar nicht erzählen, wenn ich glaubte, du wärst einer dieser Arschloch-Väter.“
2. Nachgespielte Erinnerungen der Hauptfigur
In Ardas Augen gehört sein Vater Metin nicht zu der Gruppe an, in der sich „Arschloch-Väter“ versammeln und Karten (Ellibir-51) spielen. Er erinnert sich an bestimmte Situationen der Mutter und erzählt weiter. Überfordert bei den deutschen Behörden und deren Papierkram; ungefähr so wird die alleinerziehende ausländische Mutter Ümran beschrieben und in manchen Szenen nachgespielt. Die finanziellen Schwierigkeiten der Familie, die posttraumatischen Wirkungen eines Erdbebens in der Türkei auf die Mutter, häusliche Gewalt, die Aylins Kindheit stark geprägt hat, werden auch nach Ardas kurzen Einleitungssätzen gespielt. Aylin ist sehr stark, robust und eigenwillig wie ihre Mutter. Vielleicht wagt sie sich deswegen, ihr die Zigaretten zu stehlen. Heftige Streitigkeiten zwischen beiden nehmen immer mehr zu, bis Aylin eines Tages ihren Bruder auf die Stirn küsst und flüstert:
„Tut mir leid. Ich schubs dich noch irgendwann die Treppe runter.“
Dann geht sie weg, verlässt den Bruder sowie Mutter, während die Mutter hinter ihr schreit:
„Du Miststück! Zieh dir wenigstens eine Jacke an. Scheiße!“
Die toxische Beziehung herrscht zwischen beiden still und lang weiter bis zu Ardas Sterbebett im Krankenhaus. Sie passen sehr gut auf, dass sie sich dort nicht zufälligerweise in den Besuchszeiten begegnen.
Die hilfsbereiten, zugleich aber unsensiblen Familienangehörigen, Verwandten, Freunden und Bekannten aus der türkischsprachigen Community in Deutschland, welche auch unter fast ähnlichen Problemen wie Ardas Familie leiden, können der Familie nicht helfen. Die einzige Person, die in der Lage ist, die Familie vom Abgrund abzulenken, ist der Vater, der nicht da ist. Dabei ist seine Abwesenheit der einzige eigentliche Grund, warum die Familie am Abgrund steht.
3. Innenwelt der Hauptfigur
Der Vater, den Arda nie kennenlernen durfte, existiert trotz seiner Abwesenheit in Ardas Innenwelt als eine verschwommene Vorstellung. Er wurde in der Türkei politisch verfolgt, kam ins Gefängnis, nach seiner Gefangenschaft heiratete er eine zweite Frau und blieb dort, wo er ist, ohne mit der Familie in Deutschland Kontakt aufzunehmen.
Arda, der im Gegensatz zu seiner Schwester als ein anständiger Junge betrachtet wird, ist vielleicht deshalb still und anpassend in seinem Umfeld. Denn seine Gefühle und Gedanken behält und bearbeitet er meistens für sich selbst. Während er konzentriert in sich das Erfahrene und Erlebte reflektiert, entwickelt er, trotz seines Jungenalters, eine tiefgründige Lebensperspektive.
Seine Lebensperspektive wird in den Briefen deutlich, und man versteht, warum das Spiel sich von bisheriger postmigrantischer Literatur unterscheidet. Briefe sind zu 100 Prozent authentisch, analytisch, rational und zugleich emotional. Insbesondere authentische Erzählweise der Hauptfigur ermöglicht dem Zuschauer, sein Einfühlungsvermögen zu aktivieren.
Es ist nicht überraschend, dass das Stück mit einem Klassiker der deutschen Literatur beginnt. In der ersten abstrakten, poetisch-philosophischen Szene werden aus Faust II bestimmte Textstellen über Tod und Ewigkeit zitiert. Die Szene dauert 10 bis 15 Minuten, und so wird in das eigentliche Thema eingestiegen. Diese Szene kann man als Albtraum des jungen Mannes, der im Sterbebett liegt, interpretieren. Erst nach einer kurzen Pause auf der Bühne, nach dem der junge Mann das Publikum anspricht, beginnt die Vorstellung. Er sagt:
„Im Krankenhaus ist es nicht so, wie man es aus Filmen kennt.“
Mit diesem anfänglichen Satz wird das Publikum belehrt, dass was gleich auf der Bühne dargestellt wird, vollkommen zu der Realität entspricht, obwohl es sich gerade um ein fiktives Theaterstück handelt. Dabei ist die Bühne nicht als ein Krankenhaus eingerichtet. Nicht mal ein Bett steht dort. Der Zuschauer muss die im Brief erzählten Geschichten mit eigener Vorstellungskraft visualisieren.
Der Chor des Migrantinnenvereins Dortmund e.V. unter der Leitung Kemal Dinc unterstützt das Spiel mit der Übernahme ein paar Nebenrollen und verstärkt mit sehr gut gelungenen türkischen Volksliedern die Vorstellungskraft des Zuschauers.
Nun, die Leiden des jungen Arda, die er in seinen Briefen an den Vater formuliert hat, werden dadurch nicht gelindert.
Meiner Meinung nach muss er das Vatermal, das er von seinem Vater geerbt hat, weiter pusten, bis es irgendwann unsichtbar ist. Denn eine vollkommene Identität ist auch ohne einen Vater möglich. Dafür kann Arda als erstes das radikal akzeptieren, dass das Vatermal nicht mehr da ist.
Songül Kaya
Köln, 20.05.2025

Chor des Migrantinnenvereins Dortmund e. V.

Mouataz Alshaltouh
Fotos: Presse