Literatur

„Revolution ohne Rache“

Ernesto Cardenal auf Lesereise in Deutschland
Bericht von Dagmar Schulte
Auch in der Basisgemeinde des Bonner Oscar-Romero-Hauses ging es herum: Ernesto Cardenal kommt Aschermittwoch in unsere Stadt! Er gilt als einer der bekanntesten Vertreter der Befreiungstheologie und als einer der bedeutendsten Dichter Nicaraguas. Sandinist, Marxist und Christ zu sein geht bei ihm spielend unter einen Hut – pardon – eine Baskenmütze. Mit seinem cremefarbenen, schlichten Poncho wirkt der faszinierende alte Mann ein bisschen wie der späte Gandhi. Alle Anwesenden – in den Saal passte nur die Hälfte der Interessierten – gerieten schnell in die Anziehung seines Magnetfeldes. Lutz Kliche, Cardenals langjähriger deutscher Begleiter, übersetzte auf dieser Auftaktveranstaltung seiner neuen Lesereise.
Der Journalist Lutz Warkalla bezeichnet Cardenal als „Symbolfigur für die Symbiose aus Christentum und Sozialismus“. Und er wollte von ihm einiges wissen, beispielsweise was ihn antreibe, kurz nach seinem 92. Geburtstag solch eine strapaziöse Reise anzutreten. „Die Reise ist für mich überhaupt nicht anstrengend, auch dank der guten Autowege in Deutschland, sondern eine höchst attraktive Angelegenheit. Ich will vor langer Zeit eingegangene Verpflichtungen einhalten. Aufgrund meines hohen Alters bestehe ich jedoch auf ein Flugticket in der Business-Class!“, meinte Cardenal.
Auf die Frage seines Verhältnisses zur Amtskirche meinte Cardenal, der 1985 von Papst Johannes Paul II. von seinem Amt als katholischer Priester suspendiert wurde: „Die beiden vorigen Päpste haben die Kirche um zweihundert Jahre zurückgeworfen. Der jetzige Papst Franziskus macht nun eine tatsächliche Revolution im Vatikan, eine Revolution in der Kirche und eine Revolution in der Welt.“
Gefragt nach der sandinistischen Revolution in Nicaragua durch die Frente Sandinista de Liberación Nacional (FSLN) meinte Cardenal: „Dies war die schönste Revolution, die es je gegeben hat! Durch die Einmischung der USA ist sie beendet worden. Diktator Ortega ist damals eine gute Persönlichkeit gewesen, aber jetzt ist Ortega korrumpiert. Ich selber habe mich nicht verändert, Ortega hat sich verändert. Ich bin jetzt in der Opposition.“
Cardenal begann seine Lesung mit Liebesgedichten, die er offensichtlich als sehr junger Mann geschrieben hat. Das Grupo Sal Trio begleitete die Lesung musikalisch. Tiefgründigeren Themen als die Schönheit der Mädchen widmete Cardenal sich Mitte der fünfziger Jahre, auch lyrisch. 1954 hatte Cardenal sich aktiv an der April-Revolution gegen Diktator Somoza beteiligt. Sie wurde verraten und endete mit dem Tod vieler seiner Freunde. 1956 musste Cardenal Nicaragua verlassen und trat 1957 in das Trappistenkloster Gethsemani in Kentucky ein. Draußen blinkten die Leuchtreklamen von Coca Cola, Cheesterfield und Co., während die Trappistenmönche, die er mit den sieben klugen Jungfrauen aus der Bibel vergleicht, nachts um 2.00 Uhr ihren Tag mit Gebet begannen. In diesen Stunden stiegen dann immer wieder die Eindrücke aus der Vergangenheit in sein Bewusstsein auf. Die in dieser Zeit entstandene Lyrik weist auf seelische Prozesse hin, die wahrscheinlich nur die wirklich großen Persönlichkeiten der Menschheit durchleben.
Nach dem Sieg der Nicaraguanischen Revolution wurde Cardenal zwischen 1979 und 1987 Kulturminister von Nicaragua. 1994 verließ Cardenal aus Protest gegen Ortega´s autoritären Führungsstil die FSLN. Aufgrund eines Zwists zwischen Ortega und Cardenal steht aktuell noch eine Forderung der Nicaraguanischen Justiz in Höhe von 800.000 Dollar im Raum – während Ernesto Cardenal Spenden sammelt für „Pan y Arte“ – zu deutsch „Brot und Kunst“. Im Mittelpunkt dieser kulturellen Bildungsarbeit stehen Kinder und Jugendliche in Nicaragua, einem der ärmsten Länder Lateinamerikas. Im Internet ist darüber mehr zu erfahren unter www.panyarte.de

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