Literatur

Ein fremd-vertrauter Glaube

Aleviten aus Dersim

Rezensentin: Nino Müntnich

Das Buch von Hidir Eren Çelik „Dersim: Geburtsstätte der alevitischen Legenden Xizir (Hizir)-Kult und Rêya-Xaq-Glaube“ erschien am 11. Juli 2019 im Free Pen Verlag Bonn als Kultur-Sachbuch. Çelik ist Sozialwissenschaftler, Politologe, Schriftsteller (VS) und Lehrbeauftragter im Fachbereich Interkulturelle Pädagogik an der Universität zu Köln, 2018 habilitierte er sich in der Türkei im Fach Internationale Politik und Literaturwissenschaften zum Thema „EU-Türkei-Beziehungen“. Er ist Lyriker und publiziert seit 1990. Sein Werk „Dersim…“ handelt von Geschichte und Religion, von Legenden und Tradition der Menschen aus der Region Dersim (Türkei), die in Deutschland mit über 200.000 Menschen eine große Migrantengruppe bilden.

Das Thema des Buches ist die Glaubensgeschichte der Region Dersim, die Erhaltung des Rêya-Xaq-Glaubens und des Xizir-(Hizir-)Kults, dazu die Befreiung von einseitigen Sichtweisen herrschender Religionen. Der Autor stellt philosophische Fragen über die Entwicklung der Menschheitsgeschichte, über Glaube und Religion, so wie z.B. in Gobekli Tepe bei Urfa, im heutigen Anatolien, wo schon vor 12.000 Jahren Menschen ansässig waren. Deren landwirtschaftliche Entwicklung steht im Zusammenhang von Sesshaftigkeit und der Entstehung von Religionen. Obwohl das Leben und die historische Darstellung der Dersimer nicht tiefgreifend erforscht sind, reicht die Entstehung von Religion in der Region Dersim in den Zeitraum 3500 bis 5000 v. Chr. zurück. Die Glaubenslehre in dieser Region wurde von der Religion der Hethiter geprägt, die im 3. Jahrtausend v. Chr. im Bereich des heutigen Zentralasiens, 150 km östlich der heutigen Stadt Ankara, lebten. Aber auch Mythologie und Götter der Heatier, Luwier, Hurriter und Babylonier beeinflussten die Glaubensentwicklung der in Dersim lebenden Bevölkerung. Das Volk der „1000 Götter-Hethiter“ und ihre wichtigsten „Zwölf Götter“ sind der Beweis der Religionsgeschichte, die für die Erforschung des Rêya-Xaq-Glaubens in Dersim als Basis genommen werden sollte und nicht die Geschichte des Islam – meint Çelik.

Der Rêya-Xaq-alevitische Glaube erlebte eine mit den Hethitern vergleichbare Entwicklung mit all seinen Naturheiligtümern, ebenso wie der bis heute praktizierte Xizir-Kult, der ebenfalls einen Gott verehrt, der menschliche Eigenschaften besitzt. Dem in der Region Dersim ausgeübten Glauben zufolge, sind Sonne, Flüsse und Berge genauso rein und sakral wie Gott selbst, und der Mensch wird in das Zentrum des Geschehens (Glaubens) gesetzt. Çelik betrachtet die Glaubenszeugnisse von Dersim auch mit den Augen des Altphilologen Burket, der die Aufgabe der Religion in naturgesetzlichen Entwicklungsprozessen sieht. Der Autor argumentiert pädagogisch, wenn er sagt: „Dass der Mensch seine Frömmigkeit nicht in Jerusalem oder in Mekka suchen soll, sondern bei sich“ (abgeleitet von Haci Bektasi).

Çelik fasst den geschichtlichen Werdegang des Byzantinischen Reichs (in diesem Fall ab 1071 bis zu dessen Eroberung 1453) zusammen, legt den Akzent auf die Ortschaft Dersim und die anschließende Entstehung des Osmanischen Reichs. Die Osmanen wollten Anatolien nicht nur erobern und bezwingen, sondern auch islamisieren. Es wurden in der Zeit osmanischer Herrschaft auch muslimische Mystiker ermächtigt, andere Glaubensgemeinschaften zu missionieren. Der Islam wurde an verschiedene kulturelle und ethnische Kreise angeglichen (unter anderen auch an den Rêya-Xaq-alevitischen Glauben). Die Rêya-Xaq-Aleviten in Dersim konnten sich in der Vergangenheit in Ermangelung eines Staatswesens dem nicht widersetzten, was zu ungleichmäßiger Ritualpraxis führte. Die Rituale differierten untereinander, je nach Ethnie (türkische, kurdische, alevitische) und Gebietsgruppen.

Die Priesterstämme der Aleviten waren zerbrochen, deswegen konnte keine einheitliche Anordnung verfügt werden. Vertreter verschiedener ethischer Gruppen (Aleviten, Bektaschier, Rêya-Xaq-Xizir-Gläubige und andere) wurden unter der Formation „Aleviten“ in Einklang gebracht und eine kollektive Identität einer Religionsgemeinschaft geschaffen, die ihre religiöse Vorgehensweise verschieden ausübt, dies bewirkt eine unterschiedliche Geschichtsdarstellung. Wegen staatlicher Verbote hat der Rêya-Xaq-alevitische Glaube wenig nachweisbare schriftliche Quellen, das ergab einerseits einen günstigen Boden für das Verzerren der Gepflogenheiten der Rêya-Xaq-Aleviten, andererseits führten Verfolgung, Migration, Genozide und Zuwanderung aus der Region dazu, dass der Rêya-Xaq-Glaube seines wahren Kerns beraubt wurde.

Eine wahre Herzensangelegenheit ist für den Autor die Zukunft des Rêya-Xaq-Glaubens, denn die Abwanderung aus dieser Region wächst. Etwa 470.000 dieser Menschen leben in Europa, die Nachkommen haben keine Möglichkeit, ihren Glauben zu kennen und zu pflegen. Çelik stellt eine für die Zukunft unentbehrliche Frage: Mit welchen Mitteln könnte das Alevitentum vom Einfluss anderer Religionen befreit werden, wie sunnitischer Islam, schiitischer Islam, Bektaschi-Alevitentum.

Dieses Buch (162 Seiten, ISBN Nr. 978-3-945177-67-9, Preis 16 €) ist über verschiedene Internetseiten erhältlich, z. B. auf der Seite der Dersimstiftung, bei Amazon usw.
Geeignet ist die Publikation, wie Çelik selbst darlegt, vor allem für die jüngere Generation, deren Eltern und Großeltern aus dem Gebiet Dersim stammen, dessen Vergangenheit in der Menschheitsgeschichte keine unbedeutende Rolle spielte. Aber auch für die deutsche Gesellschaft wäre es nicht unerheblich, damit eine Einsicht zu erhalten, dass es unter den Immigranten aus der Türkei auch differierende Kulturkreise gibt, die zumeist verallgemeinernd als Türken und Muslime betrachtet werden.

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